(„Bugīpoppu wa Warawanai Boogiepop Phantom“ directed by Takashi Watanabe, 2000)
Morgen beginnt für Horrorfans wieder die Nacht der Nächte. Und das geht natürlich auch an unserem fortlaufenden Animationsspecial nicht spurlos vorüber. In Teil 78 graben wir deshalb einen Anime aus, der nicht nur zu den ungewöhnlichsten seines Genres zählt, sondern auch zu den besten.
Fünf Jahre sind vergangen seitdem eine Reihe von Morden die Bewohner in Atem hielt, als eine eigenartige Lichtsäule erscheint. Seither ist nichts mehr, wie es war. Eine mysteriöse Gestalt namens Boogiepop treibt sich nachts herum, so wispert man, und entführt all jene Menschen, die das Pech haben, ihr zu begegnen. Aber das ist nichts das einzig Seltsame: Immer mehr Leute scheinen übernatürliche Kräfte zu entwickeln, die sie nicht unbedingt zum Wohle der Gesellschaft einsetzen.
Verfilmungen von Light Novels stehen nicht unbedingt im Ruf, außergewöhnliche und anspruchsvolle Geschichten zu erzählen. Sieht man einmal von Fanlieblingen wie Kino’s Journey oder Baccano! ab, ist das Ergebnis meist austauschbar, steckt voller Klischees, einfältigen Plots, albernem Humor und langweiligen Figuren – so zumindest der Vorwurf. Dass das auch ganz anders geht, zeigt Boogiepop Phantom, welches auf einer Light-Novels-Reihe von Kouhei Kadono basiert und so gar nichts mit dem Mainstreameinerlei zu tun hat.
Das beginnt schon damit, dass hier keine kulleräugigen, knapp bekleideten Schulmädchen im Mittelpunkt stehen, auch keine mal obercoolen, dann wieder unfähigen Helden. Genauer hat Boogiepop Phantom überhaupt keine Protagonisten im eigentlichen Sinn. Vielmehr dreht sich die zwölfteilige Serie um eine ganze Schar von Personen, die irgendwie mit dem Licht, mit den seltsamen Vorkommnissen oder auch der Mordreihe von damals zu tun haben. Die einzelnen Episoden stehen dabei weitestgehend für sich, sind aber doch miteinander verbunden und erzählen gemeinsam eine Geschichte. Ähnlich wie in Welcome to Irabu’s Office laufen sich die Charaktere dabei immer wieder über den Weg, Ereignisse werden aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt, einiges ergibt erst nach und nach einen Sinn. Einiges bleibt aber auch nach Serienende unverständlich.
Verstärkt wird das Gefühl, vor einem riesigen Puzzle zu sitzen, durch die eigenwillige Erzählweise: Regisseur Takashi Watanabe (Slayers, Dai Shogun) verzichtet auf eine durchgehende Chronologie, springt selbst innerhalb der Episoden munter hin und her, als ob es kein Morgen gibt. Oder kein Gestern. „Time does not exist, only the illusion of a memory exists“, heißt es an einer Stelle. Bei Boogiepop Phantom ist das tatsächlich wörtlich zu verstehen: Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Träume, Erinnerungen und Wünsche, all das verschmilzt hier zu einem nur schwer zu durchquerenden Labyrinth. Besser fährt, wer auch die Realverfilmung Boogiepop and others kennt, welche die Vorgeschichte erzählt. Oder eben die Vorlage. Wer das nicht von sich behaupten kann, sollte viel Geduld und Aufmerksamkeit mitbringen, um die Teile zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen.
Doch es ist nicht nur die vertrackte Natur, welche die Serie von anderen Horroranime unterscheidet. Nach außen hin dominieren zwar die übernatürlichen, mal auch brutalen Elemente, darunter verborgen befinden sich aber Geschichten, die sehr viel näher an der Realität sind, als einem lieb ist. Einsamkeit, Trauer, Neid, Perspektivlosigkeit, unerwiderte Liebe, Realitätsflucht – in seinen Geschichten erzählt Kadono von den ganz alltäglichen Abgründen des meist jugendlichen Ensembles. Wenn Vergleiche zu Genrekollegen anstehen, dann sind es auch weniger die von riesigen Monstern geprägten, sondern eher das melancholische Vampire Princess Miyu, welches ebenfalls menschliche Schicksale mit unmenschlichen Kreaturen verknüpft.
Dass diese Kombination aufgeht und nicht ins Melodramatische abgleitet, liegt auch an der fantastischen Atmosphäre. Die Optik ist dabei noch ein zweigeteiltes Vergnügen. So sind die unscheinbaren Figurendesigns enttäuschend, welche dank hoher Verwechslungsgefahr zur Konfusion beitragen, auch bei den spärlichen Animationen ist man vom Traditionsstudio Madhouse (Record of Lodoss War, Texhnolyze) durchaus Besseres gewohnt. Wettgemacht wird das jedoch durch die befremdlichen Bilder: blasse Sepia-Farben, viele Schatten, verlassene Spielplätze, dunkle Gassen, unvollständige Perspektiven, gelegentlich eingebaute Realaufnahmen. Wirklich unheimlich wird das aber erst durch das Zusammenspiel mit der verfremdeten Elektromusik, einem häufigen Surren und sich wiederholenden Tönen. Alles hier ist andersartig, verdreht, nicht ganz richtig.
Und eben nicht ganz einfach. Da der Zuschauer keinen Ausweg erhält, durch Actionszenen etwa oder Humor, bleibt Boogiepop Phantom ein schwer fassbares Gespenst, das sich konsequent Regeln und Erwartungen der Animefans verweigert. Gut möglich, dass die Serie – wie auch der Realfilm – es deshalb nie hierher geschafft haben. Wer mehr über die Geschichte erfahren will, dem bleiben daher entweder die Light Novels, welche vor Jahren einmal tatsächlich auf Deutsch erschienen sind, oder der bewährte Gang zum Importhändler. Zumindest der kann einem meist weiterhelfen, Boogiepop Phantom ist sowohl in den USA und England wie auch Italien und Frankreich problemlos erhältlich – und das meist zu einem geringen Preis. Wer eine Vorliebe für ruhige, interpretationsfordernde Anime wie Serial Experiments Lain hat, der sollte daher unbedingt auch in der unheimlichen Welt von Boogiepop einmal vorbeischauen.
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