(„Alisa v Zazerkale“ directed by Efrem Pruzhanskiy, 1982)
Während Alice an einem verschneiten Novemberabend mit ihrer Katze spielt, fällt ihr Blick auf den großen Spiegel. Wie sieht das Leben dahinter wohl aus? Ob im Spiegelland alles verkehrt herum ist? Alice, die noch nie viel davon hielt, ihre Neugierde zurückzuhalten, beschließt es herauszufinden. Als sie durch das Glas tritt, findet sie tatsächlich ein Land vor, in dem die gewohnten Regeln aufgehoben und in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Bei ihren Erkundungen trifft sie auf die Schwarze Königin, welche ihr erzählt, dass auch Alice eine Königin sein kann – nur muss sie dafür bis ans andere Ende des Spiegellandes kommen.
Dass „Through the Looking Glass“ von Lewis Carroll – die 1971 erschienene Fortsetzung von „Alice in Wonderland“ – einen eigenständigen Film erhält, ist eher die Ausnahme, meist begnügte man sich damit, vereinzelte Elemente des zweiten Buches einzubauen. Wenn ein und derselbe Regisseur dann sogar beide Bücher nacheinander verfilmt, ist das gleich doppelt bemerkenswert. Der Ukrainer Efrem Pruzhanskiy war ein solcher Sonderfall, als er sich 1982 ein Jahr nach Alice im Wunderland dem zweiten großen Abenteuer des neugierigen Mädchens zuwandte.
Wer den vorangegangenen Zeichentrickfilm bereits kennt, den dürfte der optisch eigenwillige Stil der Adaption nicht mehr groß überraschen. Der Rest entdeckt hier eine visuell befremdliche Welt, die kaum etwas mit den Animationskollegen von Disney (Alice im Wunderland) oder der japanischen Serie (Alice im Wunderland) zu tun hat. Vor allem die Wahl der Farben ist sehr eigen: Pruzhanskiys Version des Spiegellandes ist sehr düster, oft dreckig, manche Hintergründe bestehen aus einem durchgängigen Gelb oder Lila. Das ist technisch zwar bescheiden – so wie es die Animationen auch sind – verstärkt aber sehr schön die Atmosphäre des Buches: Alice im Spiegelland, das ist ein rund 40 Minuten anhaltender Trip, in dem vieles keinen Sinn ergibt, physikalische Regeln in ihr Gegenteil verkehrt werden.
So muss Alice zu Beginn von einem Hügel weglaufen, um dorthin zu gelangen, kurze Zeit später in Höchstgeschwindigkeit rennen, nur um an der Stelle zu bleiben. Auch einige Wortspielereien fanden ihren Weg in den Film, etwa, wenn Alice davon spricht, niemand gesehen zu haben. Und dieser „Niemand“ in der Logik des Spiegellandes zu einer tatsächlichen Person wird. Während das Buch von solchen sprachlichen Verdrehungen und Absurditäten wimmelte, sind diese im Film jedoch eher selten. Schuld ist wieder einmal der begrenzte Raum. Zwar durfte Pruzhanskiy hier insgesamt vier Episoden drehen, und damit eine mehr als bei „Alice im Wunderland“. Gereicht hat es trotzdem nicht, Alice hastet durch die einzelnen Episoden, vieles ist arg zusammengestaucht, einiges gleich ganz gestrichen, von den vielen Schachreferenzen merkt man nicht mehr viel.
Und das ist sehr schade, gerade die Begegnungen mit Humpty Dumpty oder dem Ritter – zwei Höhepunkte des Originals – sind kaum mehr wiederzuerkennen. Trotz der Verstümmelungen lohnt sich aber auch wie beim Vorgänger der Blick auf den seltsamen Film mit der seltsamen Atmosphäre und den seltsamen Farben, der einen mit seltsamen Situationen, seltsamen Figuren und seltsamen Gedankenspielen konfrontiert. Sammler finden hier eine ganz eigene visuelle Interpretation der Alice-Geschichte, die einiges an Denkstoff bietet und nie wirklich langweilig wird.
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