(„Alice ou la dernière fugue“ directed by Claude Chabrol, 1977)
Sie wolle nicht mehr mit ihm zusammenleben, sagt Alice (Sylvia Kristel), als ihr Mann eines Abends nur von seiner Arbeit sprechen will, schnappt sich ihre Sachen und fährt davon. Auf dem Weg in ihr neues Leben trifft aber irgendetwas ihre Windschutzscheibe und zwingt sie so einen Unterschlupf für die Nacht zu finden. Das ist am Ende einfacher als befürchtet, denn in der Nähe entdeckt sie ein Landhaus, wird von dessen Besitzer auch tatsächlich eingeladen zu bleiben. Am nächsten Morgen ist das Anwesen jedoch verwaist, von dem freundlichen Herren ist ebenso wenig eine Spur zu sehen wie von dessen Butler. Erschreckender aber noch: Alice kann das Grundstück nicht mehr verlassen, denn auch der Eingang ist plötzlich verschwunden.
Mehrere Dutzend Adaptionen von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ hat es im Laufe der letzten 100+ Jahre gegeben, viele davon für Kinder, einige explizit nicht (Alice), mal mehr, mal weniger originalgetreu. Als sich 1977 auch der große französische Regisseur Claude Chabrol des bekannten Buches annahm, blieb von der Vorlage jedoch kaum etwas übrig. Ein paar kleinere Verweise gibt es, der deutlichste, dass die Hauptfigur Alice Carroll heißt – eine Kombination der Buchheldin und des Buchautors –, ansonsten aber ist Alice or the Last Escapade sehr eigenständig.
Von seltsamen Kreaturen ist hier deshalb auch weit und breit nichts zu sehen, dafür aber Menschen, die seltsames Zeug von sich geben und sich seltsam verhalten. Es ist dann auch keine Welt der Wunder, die wir hier betreten, sondern eine, die eben nichts zeigen will. Eine Welt, die nur aus Fragen, jedoch keinen Antworten besteht. Das könnte für manche zu dröge sein, schließlich passiert hier relativ wenig, Alice’ Versuche, wieder rauszukommen, führen zu nichts. Stattdessen sehen wir, wie sie mindestens die Hälfte des Films herumläuft, dabei hin und wieder mal auf jemanden trifft, ohne dass einer von ihnen einen Unterschied macht. Ein paar mehr Fortschritte wären da vielleicht doch nicht ganz verkehrt gewesen, die Abwechslung ist eher bescheidener Natur.
Doch trotz der überschaubaren Handlung und der unüberschaubaren Geheimnisse ist Alice or the Last Escapade kein langweiliger Film. Chabrol kreiert in seinem recht unbekannten Werk gekonnt eine mysteriöse Atmosphäre, die einen grübeln lässt, was hier denn nun eigentlich gespielt wird. Immer wieder flirtet er hierbei auch mit dem Horror-Genre, ohne aber je so richtig hinüber zu wechseln. Schön auch, dass Alice hier – anders als in manchen Alice-Verfilmungen, anders als bei Horrorfilmen üblich –, keine hilflos Getriebene ist, sondern eine, die durchaus clever und selbstbewusst zur Sache geht. Leider ist der schön bebilderte Mystery-Thriller nur schwer zu bekommen, selbst die französische DVD-Veröffentlichung ist mittlerweile rar geworden. Dafür wird man bei YouTube fündig, sogar mit englischen Untertiteln.
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