(„Kawaki“ directed by Tetsuya Nakashima, 2014)
Der Kontakt zu seiner Familie ist schon seit Längerem abgebrochen, sein Hang zum Alkohol und zur Brutalität ließen keinen Platz mehr für andere Menschen in seinem Umfeld. Da erhält der Ex-Cop Akikazu (Kōji Yakusho) einen verzweifelten Anruf seiner Ex-Frau: Die gemeinsame Tochter Kanako (Nana Komatsu) ist verschwunden, seit einigen Tagen schon. Keiner weiß, wo sie abgeblieben sein könnte, niemand hat sie gesehen. Während sich Akikazu auf die Suche macht, Freundinnen, Mitschüler und Lehrer befragt und dabei mehr über das ausschweifende, von Sex, Drogen und Gewalt geprägte Leben der Vermissten erfährt, muss er feststellen, dass er Kanako nie wirklich gekannt hat.
Schnelle Schnitte, eine Reihe namenloser Figuren, mehrere Zeitebenen – The World of Kanako tut wirklich alles dafür, um den Zuschauer schon in den ersten Minuten vom Sessel zu hauen, gibt ihm kaum eine Chance, die Bilderflut zu verarbeiten. Später wird das frenetische Tempo zwar wieder heruntergeschraubt – ein wenig zumindest –, geschont wird bei der Verfilmung eines Romans von Akio Fukamachi aber niemand. Das Publikum nicht, die Bösewichter nicht, der Held nicht.
Wobei die Grenzen bei den beiden letzteren Figuren sehr fließend sind. Schon Akikazu ist mit seinen Gewalt- und Alkoholexzessen nicht unbedingt ein Vorbild, seine reizende Tochter gibt durch Erzählungen und Rückblenden immer monströsere Charakterzüge preis, selbst vermeintlich rechtschaffene und nette Randfiguren dürfen eine überraschend dämonische Seite an sich zeigen, wenn es die Situation erfordert. Dass japanische und südkoreanische Filme ganz gerne mal an der Oberfläche kratzen und hinter der eifrig-braven Fassade Abgründe zum Vorschein bringen, ist kein Geheimnis. Regisseur Tetsuya Nakashima (Geständnisse) versucht aber erst gar nicht eine heile Welt vorzugaukeln. The World of Kanako beginnt bereits in der Hölle, erhöht mit der Zeit nur deren Intensität.
Das ist teilweise schon schwer zu verkraften. Allein die sehr explizite, mitunter groteske Gewalt wird selbst bei so manchem hartgesottenen Horrorfan die Augen hilflos zur Seite drehen lassen. Schlimmer noch ist aber der allgegenwärtige Nihilismus, der keinen Platz für Gefühle lässt. Von Liebe ist zwar immer wieder die Rede. Aber es ist keine, die einen glücklich bis zum Ende aller Tage dahinschweben lässt, sondern eine, die sich im Dreck suhlt, das Rauschhafte sucht, den Schmerz. Immer wieder wird dabei auf „Alice im Wunderland“ verwiesen. Nicht aber der absurden Ideen des Buches wegen, der cleveren Wortspiele. Es ist der Fall durch das Loch, der hier zum Symbol für eine Menschheit wird, für die es nach der Geburt nur noch eine Richtung gibt: die nach unten.
Die eigentlichen Krimielemente rücken dabei eher in den Hintergrund. Zwar ermittelt Akikazu den ganzen Film über, entdeckt neue Spuren, es kommen immer mehr Verdächtige hinzu. Aber das ist nicht mehr als ein Mittel zum Zweck, immer mehr Abgründe zu offenbaren, die Gewaltspirale weiter aufzudrehen. Des eigentlichen Falles wegen braucht man sich The World of Kanako daher nicht anzuschauen. Auch die Figuren zeichnen sich nicht gerade durch ihre Tiefgründigkeit aus. Es mag eine Tragödie sein, was in Nakashimas außer Fugen geratener Gesellschaft vor sich geht. Aber es ist keine, die einem sonderlich nahegeht, dafür fehlt es hier an Personen, an die man sich als Zuschauer auch wirklich klammern kann. Faszinierend ist diese Tour de force trotz allem, hypnotisch und abstoßend zugleich, eine Auslotung und bewusste Überschreitung von Grenzen. Nachdem der Film dieses Jahr schon mehrfach an verschiedenen Stellen zu sehen war, unter anderem beim japanischen Filmfest Nippon Connection und dem Fantasy Filmfest, dürfen daheimgebliebene Freunde menschlicher Abgründe daher froh sein, dass er es nun auch ins Heimkino geschafft hat.
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