(„Le Fils de l’autre“ directed by Lorraine Levy, 2012)
Fast 18 Jahre lang haben Joseph (Jules Sitruk) und Yacine (Mehdi Dehbi) mit einer falschen Identität gelebt, seitdem beide im Krankenhaus als Babys vertauscht wurden. Und hätte Joseph nicht den Bluttest für das Militär gemacht, die Verwechslung wäre vermutlich nicht ans Tageslicht gekommen. Denn während der Palästinenser Jospeh irrtümlich bei der in Frankreich geborenen Ärztin Orith (Emmanuelle Devos) und dem israelischen Kommandanten Alon (Pascal Elbé) in einer jüdischen Familie aufwuchs, kümmerten sich das arabische Paar Saïd (Khalifa Natour) und Leïla (Areen Omari) um Yacine – ohne zu ahnen, dass ihr Sohn eigentlich ein Jude ist. Als der Irrtum aufgedeckt wird, müssen sich die beiden Paare nicht nur damit auseinandersetzen, ein falsches Kind großgezogen zu haben, sondern auch eines, das eigentlich zum Feind gehört.
Es ist der Alptraum jeder Mutter und ein beliebtes Gerücht, um ein Krankenhaus in Verruf zu bringen: die Mär vom vertauschten Kind. Die Vorstellung, ein falsches Leben geführt zu haben, aber auch den eigenen Nachwuchs nach der Geburt nicht erkennen zu können, das ist schon ein harter Stoff. Und als wäre das nicht genug, bringt die französische Regisseurin und Ko-Autorin Lorraine Levy noch mehr emotionalen Sprengstoff in Geschichte, indem sie zwei Familien in eine Schicksalsgemeinschaft zwingt, welche unter normalen Umständen nichts miteinander zu tun hätten. Die nichts miteinander zu tun haben wollten.
Glaubwürdig ist das natürlich weniger, als eine aus dem Leben gegriffene Geschichte sollte man Der Sohn der Anderen aber auch gar nicht verstehen. Vielmehr ist das Drama eine Was-wäre-wenn-Reflexion gekoppelt mit einem gefühlvollen Plädoyer für ein Miteinander der beiden verfeindeten Parteien. Der erste Teil davon ist dabei der interessantere, da er einigen identitätsphilosophischen Fragen einen greifbaren Kontext gibt. Was definiert mich als Mensch, die Genetik oder das Umfeld? Ist Yacine der Sohn seiner leiblichen Eltern Orith und Alon oder der seiner Zieheltern Saïd und Leïla? Wer hat „Anspruch“ auf ihn?
Das geht verständlicherweise mit vielen Gefühlsverwirrungen einher, mit fragenden Gesichtern, Selbstzweifeln, Wut und Angst. Angst, die gewohnte Familie verlieren zu müssen. Angst, sich auch selbst zu verlieren. Das ist von allen Beteiligten einfühlsam gespielt, Eltern wie Kindern, bietet Anlass für emotionale Szenen, aber auch solche, die eher komischer Natur sind. Wenn Joseph, der sein Leben lang als Jude gelebt hat, sämtliche Regeln befolgt und sein Leben dem Glauben verschrieben hat, von dem Rabbi erfährt, weniger jüdisch zu sein als der muslimisch aufgewachsene Yacine, ist das natürlich grotesk. Und dazu noch ein kleiner Seitenhieb auf die Willkürlichkeit von Religion.
Schwieriger wird es bei den politischen Aspekten des Nahostkonflikts. An der Stelle macht es sich Der Sohn der Anderen doch oft recht einfach. Nicht nur, dass die Grundeinstellung der beiden Seiten Klischees folgt – die Palästinenser sind aggressiv, die Juden herablassend –, die Rollenverteilung innerhalb der Familien sind es auch. Während die Mütter sich in ihrem Schmerz schon im Krankenhaus fast um den Hals fallen, dauert es nicht lange, bis die Männer sich gegenseitig bekriegen und mit großen Vorwürfen überfallen. Und auch Yacines Bruder Bilal (Mahmud Shalaby) ist nicht unbedingt um eine Auseinandersetzung bemüht, zeigt hier schon recht fundamentalistische Ansätze. Dass die später sehr schnell fallengelassen werden ist symptomatisch für einen Film, dem es eher um die großen Momente geht und das dazwischen gerne ignoriert. So kündigt Joseph in der einen Szene an, bei seiner Oma übernachten zu wollen, das nächste Mal wird sie erwähnt, als sie einige Tage später beerdigt wird. Auch eine mögliche Romanze des Jugendlichen wird mittendrin sang- und klanglos abgewürgt. Das ist alles schon ein bisschen sehr hastig und nachlässig erzählt, so als wären beim Schneiden massenhaft Szenen verloren gegangen. Dafür entschädigen diverse zärtliche und ergreifende Momente, welche Der Sohn der Anderen zusammen mit den spannenden Überlegungen trotz der etwas bemühten Friedensnachricht zu einem sehenswerten Film über Identität und Verständigung machen.
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