(„Saul fia“ directed by László Nemes, 2015)
Im Oktober 1944 laufen die Morde im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau auf Hochtouren. So zahlreich sind sie geworden, dass die Nazis Hilfe brauchen, um der Massen noch Herr zu werden. Ein Sonderkommando jüdischer Häftlinge bekommt deshalb die Aufgabe, ihnen bei der Verbrennung der Leichenberge zu Hand gehen. Als einer davon, der Ungar Saul Ausländer (Geza Röhrig), dabei die Leiche eines Jungen entdeckt, beschließt er, diese nicht den Deutschen zu überlassen, sondern zusammen mit einem Rabbi ein würdiges Begräbnis zu geben – ohne dass es die Aufpasser merken sollen.
Als vergangenen Sonntag Son of Saul den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt, war kaum einer überrascht gewesen, das ungarische Holocaustdrama war im Vorfeld schließlich der haushohe Favorit. Das dürfte der eine oder andere reflexartig allein auf das Thema zurückführen, denn auch 70 Jahre nach Kriegsende geht das damalige unvorstellbare Leid aufgrund seiner historischen Bedeutung fast immer mit Kritikerlob einher – so zumindest der Vorwurf. Aber es wäre nicht fair, László Nemes’ Debütwerk allein darauf reduzieren zu wollen, denn dafür ist es zu anders. Und zu gut.
Schon das aus einer früheren Zeit stammende 4:3-Bildformat verrät, dass das hier kein Film wie jeder andere ist. Bemerkenswerter ist aber, wozu diese Kameraeinstellung gebraucht wurde: Wo andere das Breitbildformat nutzen, um möglichst viel von dem Schauplatz zu zeigen, bleibt Nemes immer sehr dicht an seinem Protagonisten. So dicht, dass vom Drumherum kaum etwas zu sehen ist, man bis zum Schluss kein örtliches Gefühl entwickelt. Wie die Mitglieder des Sonderkommandos ist man auch als Zuschauer gefangen in einem klaustrophobischen Gewirr aus Gängen, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Die Desorientierung ist aber auch darauf zurückzuführen, dass Nemes auf richtige Einleitungen verzichtet. Im Vorspann wird das Sonderkommando kurz beschrieben, danach sind wir schon mitten drin. Wer Saul ist, wird nicht wirklich verraten, auch über die anderen erfahren wir nichts. Ähnlich wie im russischen Science-Fiction-Epos Es ist schwer, ein Gott zu sein folgen wir dem Protagonisten auf Schritt und Tritt, sehen ihn groß im Zentrum, andere Figuren tauchen urplötzlich neben ihm auf und verschwinden anschließend wieder, ohne dass wir viel über sie erfahren. Manche Puzzleteile setzen sich dabei zu einem Bild zusammen, andere nicht.
Inhaltlich gibt das natürlich etwas weniger her, abgesehen von Sauls verzweifeltem und letztendlich absurden Kampf um die menschliche Würde an einem würdelosen Ort gibt es in Son of Saul keine richtige Geschichte. Die Atmosphäre ist dafür umso dichter, denn die grausame Willkürlichkeit um Leben und Tod, die ist hier die ganze Zeit über zu spüren. Dafür muss man das Grauen nicht einmal sehen: die Schreie im Hintergrund, die auf dem Boden liegende Kleidung der Toten, die schmutzigen Unterkünfte – mehr braucht Nemes nicht, mehr will er nicht.
„Kann man das Unvorstellbare zeigen?“, wird angesichts des Holocaust immer mal wieder gefragt. Das vielleicht nicht, aber man kann es spürbar machen. In Son of Saul gibt es außer Saul kaum echte Protagonisten, das menschliche Elend wurde hier weitestgehend entmenschlicht. Bewegend ist das nicht unbedingt, vielmehr alptraumhaft, ein Stolpern durch die Hölle. Und es ist spannend, weil man hier ständig darauf hofft, dass das Aufflackern der Würde und Menschlichkeit nicht gleich wieder von der Finsternis verschluckt wird, auch wenn man die Antwort darauf eigentlich längst weiß.
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