(„Plemya“ directed by Miroslav Slaboshpitsky, 2014)
Wer sich an dem Internat für Gehörlose durchsetzen will, braucht ein dickes Fell, flinke Fäuste und die richtigen Freunde. Das stellt der Teenager Sergey (Grigoriy Fesenko) recht schnell fest, als er dort ankommt und gleich drangsaliert wird. Erst als er der Gang The Tribe beitritt, die sich mit Raubüberfällen und Prostitution Geld und Respekt verschafft, gelingt es dem Jungen, sich in der neuen Umgebung zu etablieren. Kompliziert wird es jedoch, als er sich während seiner Zuhältertätigkeit in Anna (Yana Novikova) verliebt. Denn wer einmal in den Fängen von The Tribe gefangen ist, der kommt da so schnell nicht wieder raus.
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold: Auch wenn die Zeit der Stummfilme schon ein paar Jahrzehnte zurückliegt, es gibt doch immer mal wieder Filmemacher, die sich bewusst dafür entscheiden, ihre Figuren nicht sprechen zu lassen. The Artist tat dies aus Nostalgiegründen, Blancanieves, um das Märchenhafte noch weiter zu betonen. The Tribe ist jedoch weder nostalgisch, noch märchenhaft, sondern unbequem, direkt und teils sehr grausam. Gleich zu Beginn lässt Regisseur und Drehbuchautor Miroslav Slaboshpitsky keinen Zweifel daran, dass im Internat ein rauer Nicht-Ton herrscht: Da müssen sich Neulinge nackt ausziehen, in der Kantine wird das Essen geklaut oder auch mal kräftig hineingespuckt. Daran wird sich später nichts ändern, im Gegenteil. Die Spirale dreht sich immer schneller, gerät außer Kontrolle, selbst bei besonders schmerzhaften Szenen hält der Ukrainer lange, fast zu lange aufs Geschehen.
Das soll nicht bedeuten, dass er ausschließlich am Inhalt interessiert ist und in der Inszenierung ein reines Mittel zum Zweck sieht. Vielmehr ist diese ausgesprochen kunstvoll, kombiniert die schäbigen Ereignisse mit eleganten, schnittlosen Kamerafahrten, aber auch theaterähnlichen, festen Kulissen. Wie eine Mischung aus Ein Prophet, Birdman und Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach wirkt das Ergebnis, grotesk und widersprüchlich, hässlich und faszinierend zugleich.
Als Filmerfahrung ist The Tribe trotz der Ähnlichkeiten am Ende aber einzigartig. Slaboshpitsky lässt uns selbst zu einem Tauben werden, einem Außenseiter: Sämtliche Protagonisten unterhalten sich in ukrainischer Gebärdensprache, die nie übersetzt, nie untertitelt wird. Der Zuschauer ist nur dabei statt mittendrin, wenn man so will. Das ist in seiner Konsequenz fordernd, manchmal anstrengend, gerade bei einer Länge von über zwei Stunden, wenn nicht sogar frustrierend. Worüber hier gesprochen wird, wird im Einzelnen oft nicht ganz klar, viele Figuren bleiben einem auch aufgrund der zwangsweise fehlenden Namen fremd. Und doch ist es beeindruckend, wie viel Inhalt und auch Emotionen transportiert werden können nur durch die Kraft der Bilder, wie sich Momente der Grausamkeit und Zärtlichkeit selbst ohne verbalen Kontext einstellen.
Inhaltlich darf man sich hier dennoch keine Wunderdinge erwarten. Eigentlich ist The Tribe hier sehr schlicht, hat nichts zu erzählen, was man nicht schon woanders gehört hätte. Style over substance also? Ein wenig schon, lässt man das „Gimmick“ der sprachlosen Charaktere weg, der Film hätte eher wenig Beachtung gefunden. Aber es ist dann am Ende doch mehr als das, selten finden Geschichte und Inszenierung so gut zusammen wie hier, formen eine Einheit, die einen überwältigt und sprachlos zurücklässt. Und spätestens nach dem noch lang nachklingenden, verstörenden Schluss ist klar, dass Slaboshpitsky selbst eine der aufregenderen europäischen Filmstimmen der letzten Zeit gehört.
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