(„Akage no An“ directed by Isao Takahata, 1979)
Als das Waisenkind Anne hört, dass es von zwei Farmersleuten adoptiert werden soll, klingt das zu schön, um wahr zu sein. Und ist es dann auch. Eigentlich wollen der alte Matthew und seine Schwester Marilla, die beide ohne Kinder geblieben sind, einen Jungen, der ihnen zur Hand geht und später auch den Hof übernehmen kann. Aber das Kind zurückgeben? Das bringen die beiden dann doch nicht übers Herz. Einfach ist das Zusammenleben mit dem lebhaften, redseligen und sehr fantasiebegabten Mädchen nicht. Aber je mehr Zeit sie miteinander verbringen, umso stärker wächst ihnen Anne ans Herz.
Aller guten Dinge sind drei? Während Heidi und Marco hierzulande die Zuschauer im Sturm eroberten, stand Isao Takahatas dritte große Serie für die Klassikerreihe World Masterpiece Theater immer ein wenig im Schatten der beiden anderen. Ist man hingegen in amerikanischen Foren unterwegs, ist es vor allem Anne mit den roten Haaren, welche heutigen Anime-Zuschauern ans Herz gelegt wird. Das mag damit zusammenhängen, dass die literarische Vorlage – das Kinderbuch „Anne auf Green Gables“ von Lucy Maud Montgomery – in der englischsprachigen Welt deutlich populärer ist. Aber es gibt auch inhaltliche Gründe, ist Anne doch die komplexeste und interessanteste der drei Kinderfiguren.
Die Vergleiche zu Heidi sind natürlich naheliegender: In beiden Fällen steht ein Mädchen im Mittelpunkt, beide Serien spielen auf dem Land, in beiden geht es darum, dass ein Waisenkind sich in einer fremden Umgebung zurechtfinden und dabei etwas erwachsener werden muss. Und: Beide Protagonistinnen sind nah am Wasser gebaut. Läuft es mal nicht so wie gewollt, wird hemmungslos die Tränenmaschine angeworfen, um das Umfeld zu überzeugen. Anders als bei dem Schweizer Mädchen geschieht das hier jedoch immer mit einem Augenzwinkern. Wenn Anne sich ihrer theatralischen Seite hingibt, dann ist das so bewusst übertrieben, dass es schon wieder komisch ist. Allein schon für das Augenrollen von Marilla, sobald bei ihrem Schützling mal wieder die ganze Welt untergeht – mehrfach – darf man hier selbst ein paar Lachtränen vergießen.
Anne ist jedoch keine reine Witzfigur, vielmehr wird ihre überbordende Fantasie als Kontrastmittel zu dem vernünftigen Geschwisterpaar und dem konservativen Umfeld auf der kanadischen Insel benutzt. Natürlich ist es irgendwo lächerlich, wenn in der Vorstellung des Mädchens alles poetisch und romantisch sein muss, selbst Bäume, Wege und Seen neue „schöne“ Namen bekommen. Aber Anne mit den roten Haaren ist eben auch ein Plädoyer dafür, der kindlichen Schöpferkraft keine Fesseln anlegen zu wollen. Das macht das Leben schon früh genug. Und auch Anne darf sich im Laufe der 50 Episoden wandeln, wird älter und vernünftiger, legt einige ihrer Marotten ab und zeigt sich verantwortungsbewusster. Unterhaltsamer ist sicher die Phase als Kind, darunter die ständigen Running Gags wie Annes Faible für Puffärmel und ihr Leid mit den eigenen roten Haaren. Der Übergang ist Takahata aber prinzipiell gelungen, von den verspielt-humorvollen Anfangsfolgen zu den düsteren, teils sehr traurigen Folgen zum Schluss. Allerdings stimmt das Tempo dabei oft nicht so ganz. Während die Geschichte lange Zeit auf der Stelle tritt und nur wenig Neues bietet, auch dank diverser Rückschaufolgen, welche das bisherige Geschehen zusammenfassen, geht es zum Schluss ein bisschen sehr schnell, da wäre eine gleichmäßigere Gewichtung schön gewesen.
Dass man hier kaum ein Gefühl dafür entwickelt, wie sich die Zeit verändert, liegt aber auch daran, dass Anne wie seinerzeit auch schon Heidi über weite Strecken keine äußerliche Entwicklung mitmacht. Erst zum Schluss, wenn das Mädchen zu einer Jugendlichen herangewachsen ist, ist der Wandel auch bildlich festgehalten, vorher sieht es jahrelang völlig gleich aus. Das ist bei einer knapp budgetierten Langzeitserie sicherlich nachvollziehbar, schmälert den positiven Gesamteindruck aber ein wenig. Ansonsten bietet der Anime aus dem Traditionsstudio Nippon Animation (Alice im Wunderland, Sindbad) solide 70er-Jahre-Kost mit schönen Landschaftsbildern und kleineren Spezialeffektexperimenten, manchmal jedoch etwas holprigen Animationen. Zum Ende hin sieht Anne mit den roten Haaren auch etwas sehr verwaschen aus, die kontrastreichen Figuren passen an manchen Stellen kaum noch in die Hintergründe. Das alles lässt sich aber recht leicht verschmerzen, weshalb die jüngst erschienene Komplettbox nicht nur eine günstige Gelegenheit ist, das Frühwerk des späteren Studio-Ghibli-Mitbegründers kennenzulernen, sondern auch unabhängig von den großen Namen einen schönen Coming-of-Age-Anime zu sehen, der seinen heutigen Verwandten trotz des fortgeschrittenen Alters eine ganze Menge erzählen kann.
Japanische Fans durften sich übrigens vor einigen Jahren über ein Wiedersehen mit Anne freuen: Konnichiwa Anne: Before Green Gables ist eine Prequel-Serie, die 2009 ebenfalls von Nippon Animation für World Masterpiece Theater umgesetzt wurde und auf dem 2008 erschienenen Buch „Before Green Gables“ von Budge Wilson basiert. Die hat jedoch nie ihren Weg hierher gefunden, allgemein blieb der Anime größtenteils in Japan, weshalb zweifelhafte Fansubs derzeit die einzige Möglichkeit darstellen, ihn zu sehen.
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