(„Colorful“ directed by Keiichi Hara, 2010)
Das zweite Jahr unseres fortlaufenden Animationsspecials geht zu Ende, wofür wir auch den passenden Titel parat haben: Teil 104 widmet sich einem Anime über das Endenwollen, das Nichtmehrkönnen, aber auch Neuanfänge, der zu den besten der letzten Jahre zählt.
Es sind nur noch wenige Schritte, dann ist er da, der Tod. Oder er hätte es zumindest sein sollen. Denn an der Bahnstation, welche gleichzeitig auch die letzte ist für die Seelen der Verstorbenen, erfährt eine davon, dass sie noch eine zweite Chance bekommt. Sie soll im Körper des 14-jährigen Makoto Kobayashi, der sich unlängst das Leben nahm, zurück zur Erde fahren und innerhalb von sechs Monaten erfahren, was den Jungen zu seinem Selbstmord getrieben hat, aber auch was ihr eigenes Vergehen war. Für den Wiedergeborenen ist das eine alles andere als einfache Aufgabe, schließlich hat er keine Erinnerungen an das Leben von Makoto und eigentlich auch keine Lust auf das Ganze. Begleitet von dem Geist Purapura taucht er dennoch immer tiefer ein und lernt nach und nach, sich damit zu arrangieren.
Manchmal reichen schon ein paar Minuten, um zu wissen, einen ganz besonderen Anime vor sich zu haben. Colorful beginnt damit, einen seltsamen Bahnhof zu zeigen, dessen Züge man nur hört, nicht sieht. Auch die Menschen, die dort auf ihre letzte Reise warten, sind kaum zu sehen, erscheinen dem Protagonisten nur als Schatten. Und selbst der eigentliche Protagonist wird uns vorenthalten, vergleichbar zu Realfilmen wie Alexandre Ajas Maniac und Hardcore wird alles aus der Egoperspektive gezeigt. Die ungewöhnliche Perspektive ist natürlich dem Inhalt geschuldet, schließlich steht nicht die namenlose Seele im Mittelpunkt, sondern Makoto, führt letztendlich aber dazu, dass der Film von Anfang etwas traumartig und unwirklich erscheint.
Später nimmt der Aspekt jedoch wieder ab. Die visuelle Umsetzung wird zunehmend konventioneller, bleibt aber auf einem insgesamt guten Niveau. Vor allem die sehr realistisch gehaltenen Hintergründe sind ansehnlich, wenn auch etwas unnötig starr, was mit dazu führt, dass es einen extremen Kontrast zwischen ihnen und den Objekten und Personen gibt – das hätte insgesamt mehr aus einem Guss sein dürfen. Dafür stimmen die Animationen der Figuren und auch bei den CGI-Elementen gibt sich die Zusammenarbeit des Traditionsstudios Sunrise (Cowboy Bebop, Planetes) und der jungen Kollegen von Ascension, die unter anderem bei One Piece: Episode of Ruffy ausgeholfen haben, keine Blöße.
Das eigentliche Augenmerk gilt aber ohnehin dem Inhalt: Die Verfilmung eines Romans von Eto Mori beginnt mit einem Selbstmord, einem nicht unbedingt häufig anzutreffenden Thema in einem Anime. Und das ist nur der Auftakt für eine Reise in die Abgründe. Ehebruch, Jugendkriminalität, Prostitution Jugendlicher, Mobbing – Colorful straft seinen Titel Lügen und zeigt mit passenden trüben Bildern, wie hässlich das Leben manchmal werden kann. Dabei gelingt es Regisseur Keiichi Hara (Summer Days with Coo, Miss Hokusai) gut, den Protagonisten und den Zuschauern zwar viel zuzumuten, vielleicht ein bisschen zu viel, um ganz glaubwürdig zu sein, ohne dabei jedoch in die melodramatischen Untiefen zu waten, welche „ernste“ Animes oft magisch anzieht.
Von Magie ist hier ohnehin nur wenig zu spüren. Manchmal scheint sie da zu sein, die Hoffnung, eine langsame Annäherung der Menschen, Verständnis. Die Bilder, die der ansonsten in der Schule völlig überforderte Makoto malte, sie sind nicht nur für ihn ein Ausweg aus dem traurigen Alltag. Aber immer, wenn es gerade danach aussieht, als würde doch etwas gut werden, passiert wieder etwas. Die just gekauften Markenschuhe werden von einer Gruppe Jugendlicher geklaut, das gut gemeinte Geschenk der Mutter weggeworfen, die besorgte Mitschülerin von sich gestoßen. Einfach macht es die Hauptfigur anderen nicht, weder der Familie, noch den Zuschauern, man fühlt mit der Familie, die völlig rat- und hilflos mitansehen muss, wie der Junge sein Leben wegwirft. Wieder und wieder. Vielleicht wurde Colorful deshalb nie in Deutschland veröffentlicht, in dem mitunter emotional sehr harten Anime mangelt es an eindeutigen Helden oder immerhin Sympathieträgern, Makoto scheint es darauf abzusehen, möglichst oft anderen Menschen wehzutun und vor den Kopf zu stoßen.
Und doch ist der Film gerade deshalb so sehenswert, weil er eben zeigt, wie schwierig das Aufwachsen als Jugendlicher sein kann, wie man manchmal von Einsamkeit zerfressen wird, weil einen niemanden versteht. Wie schwierig es aber auch ist, wenn einem jemand, der einem viel bedeutet, entgleitet. Am ehesten gleicht der Blick auf eine Familie, die schon lange nicht mehr funktioniert, der ebenfalls sehr empfehlenswerten Coming-of-Age-Serie Aku no hana – Die Blumen des Bösen. Anders als dort ist Colorful jedoch versöhnlich, sucht zumindest den Weg zurück ins Leben. Aber auch wenn man sich über das Ende ein wenig streiten mag, für importfreudige Freunde anspruchsvoller Animegeschichten ist der Film ein Muss und glücklichweiser ohne Probleme aus den USA, Frankreich oder sogar Spanien zu beziehen.
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