Die Schueler der Madame Anne
© Neue Visionen

Die Schüler der Madame Anne

(„Les Héritiers“ directed by Marie-Castille Mention-Schaar, 2014)

Die Schueler der Madame Anne DVD
„Die Schüler der Madame Anne“ // Deutschland-Start: 6. November 2015 (Kino) // 27. Mai 2016 (DVD/Blu-ray)

Wer die berüchtigte 10. Klasse am Leon-Blum-Gymnasium übernimmt, der hat echt nichts zu lachen. Die Schüler aus dem sozialen Brennpunkt haben sich selbst schon lange aufgegeben, zeigen weder Ambitionen noch Disziplin, geschweige denn Interesse am Unterricht.  Malik (Ahmed Dramé) zum Beispiel will lieber Filme drehen, anstatt Stoffe zu pauken, Mélanie (Noémie Merlant) legt sich ständig mit anderen an, bei Théo (Adrien Hurdubae) wiederum gibt es überhaupt keine Interaktion, da er mit niemandem spricht. Anne Gueguen (Ariane Ascaride), welche die undankbare Aufgabe hat, der Rasselbande Geschichte und Kunst beizubringen, lässt sich davon jedoch nicht so leicht die Laune verderben. Ihre Idee: Ein Schülerwettbewerb über Kinder in Nazi-Konzentrationslagern soll die Unwilligen zusammenschweißen und ihr Selbstwertgefühl aufpolieren.

Darf man über den Nationalsozialismus Witze machen? Diese Frage taucht in regelmäßigen Abständen auf, zuletzt etwa bei Heil oder Er ist wieder da, wenn Filmemacher dieses düstere Kapitel mithilfe von Humor beleuchten wollen. Nur um in ebensolcher Regelmäßigkeit mit einem „ja, irgendwie schon“ beantwortet zu werden. Aber ein Wohlfühlfilm? Steht das nicht in einem zu krassen Gegensatz zu den Abscheulichkeiten, welche das Thema mit sich bringt? Und erneut muss man die Frage nach dem „darf man das?“ irgendwie bejahen, zumindest im speziellen Fall von Die Schüler der Madame Anne.

Das mag aber auch daran liegen, dass der Nationalsozialismus hier nicht allzu sehr im Mittelpunkt steht, sondern vielmehr ein Mittel zum Zweck ist. Und der Zweck ist: Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen eine Perspektive geben. Eine Perspektive, die ihnen weder ihre Familie noch die Gesellschaft bietet, oftmals nicht einmal die Lehrer – bis auf Anne hat jeder die 11. Klasse aufgegeben. Damit rückt der französische Film vielmehr in die Nähe von Dangerous Minds und Konsorten, wo ebenfalls Schüler aus unterprivilegierten Schichten aufgrund engagierter Lehrer doch noch Zuversicht für ihr weiteres Leben entwickeln, eigene Stärken erkennen.

Das lädt natürlich zu Kitsch und Betroffenheit ein, besonders wenn man dies mit dem Totschlagthema Nationalsozialismus verbindet. Das auf wahren Motiven beruhende Die Schüler der Madame Anne tut dies dankenswerterweise jedoch nur in einem sehr begrenzten Maße. Tatsächlich ist das Drama erstaunlich zurückhaltend, geradezu beiläufig werden die Schicksale der Jugendlichen vorgestellt. Manchmal sogar ein bisschen zu beiläufig: Warum Olivier (Mohamed Seddiki) plötzlich zum Islam konvertiert und eine unglaubliche Aggression entwickelt, bleibt ebenso unerklärt wie die Hintergründe von Theo, der immer auch einen persönlichen Bezug zum Holocaust zu haben scheint, ohne dass erkennbar würde warum. Dass die sonst uninteressierten Schüler ein bisschen schnell Feuer und Flamme sind beim Schülerwettbewerb, Madame Anne im Gegensatz zu ihren Kollegen in Windeseile zu einer Respektperson heranwächst, ohne viel dafür zu tun, auch das ist dramaturgisch recht sparsam vorbereitet.

Das könnte man natürlich zerreißen, den Film für seine kleineren emotionalen Manipulationen kritisieren. Und doch tut er irgendwie gut, geht einem auf eine Weise ans Herz, wie man es in seinen zynischeren Momenten nicht wahrhaben wollte. Von der Vergangenheit für die Zukunft lernen, lautet das Motto, frühere Ungerechtigkeiten dafür nutzen, dass heute dafür kein Platz mehr ist. Wenn bei Die Schüler der Madame Anne die Underdogs zu Gewinnern aufsteigen, dazu ungeschönte Geschichten aus dem Nationalsozialismus vieles zurechtrücken, was im Hier und Jetzt passiert, dann entlassen uns Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar (Willkommen in der Bretagne) und Dramé, der einen der Jugendlichen spielt und als Ko-Autor eigene Erfahrungen verarbeitet, in einen wärmenden Optimismus. Das Gefühl, dass es jeder irgendwie schaffen kann. Und das ist trotz oder vielleicht auch wegen des so unpassenden geschichtlichen Hintergrunds eine ungemein effektive Art und Weise, dem Zuschauer nach gut anderthalb Stunden ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern.



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„Die Schüler der Madame Anne“ verbindet eine Verlierer-werden-Gewinner-Geschichte mit Grausamkeiten des Nationalsozialismus zu einem ebenso befremdlichen wie wirkungsvollen Wohlfühlfilm, der manchmal ein bisschen zu schnell erzählt wird.
7
von 10