Nobody From Nowhere

(„Un illustre inconnu“ directed by Matthieu Delaporte, 2014)

Nobody From NowhereIn seinem normalen Leben arbeitet Sébastien Nicolas (Mathieu Kassovitz) als Immobilienmakler. Dabei ist er zwar erfolgreich genug, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, eine wirkliche Erfüllung findet er darin jedoch nicht. Und so geht er einem etwas ungewöhnlichen Hobby nach: Er kopiert Leute. Nicht auf der Bühne, nicht aus kommerziellen Gründen, sondern versteckt, so dass es nach Möglichkeit keiner bemerkt. Eine beeindruckende Ausstattung an Perücken und Gesichtsprothesen hat er bereits, die ihn in die Haut anderer schlüpfen lassen, als er eines Tages den zurückgezogen lebenden Violinisten Henri de Montalte (ebenfalls Kassovitz) trifft. Und plötzlich ist alles anders: Je mehr er den Misanthropen kopiert, umso mehr beginnt er sich in dessen Leben zu verlieren – was auch den Montaltes Frau Clemence (Marie-Josée Croze) sowie seinem Sohn Vincent (Diego le Martret) liegt, die sehr unter seiner abweisenden Art zu leiden haben.

Das Schöne an Erwartungen ist: Man kann sich nie sicher sein, wann diese erfüllt werden. Beispiel Nobody From Nowhere. Ein Mann, der sich fremde Identitäten klaut, ein Film aus dem Thrillergenre – als solcher wurde er zumindest verkauft –, dazu eine Aufführung beim traditionell etwas härteren Fantasy Filmfest, da schien eigentlich alles klar zu sein, als letztes Jahr das Kinolicht erlosch. Und war es am Ende doch nicht. Sicher, wenn Sébastien seine Opfer beobachtet, sie bis ins Detail kopiert und versucht in deren Abwesenheit ihre Rolle zu übernehmen, dann darf da schon einmal der Adrenalinpegel nach oben schnellen, schließlich besteht immer die Gefahr, erwischt zu werden. Mit ungewissem Ausgang. Ein bisschen wie ein Heist Movie, nur dass der Lohn kein Geld ist, keine Juwelen.

Aber was dann? So ganz genau verrät Regisseur und Ko-Autor Matthieu Delaporte das nicht. Es mag aus Langeweile geschehen, aus Nervenkitzel, vielleicht auch Neugierde. Oder es ist eben doch Einsamkeit, die den im Alltag so unscheinbaren Mann dazu veranlasst, jemand anderes sein zu wollen. Das erinnert ein wenig an Replicas – In Their Skin, das drei Jahre zuvor auf dem Genrefestival seine Premiere feierte. Ähnlich drastisch wie dort sind die Mittel hier aber nicht, das sehr ruhig erzählte Nobody From Nowhere ist stärker im Dramabereich angesiedelt, mehr Psychogramm denn tatsächlicher Thriller. Dass der französische Film so melancholisch wirkt, liegt zum einen an dessen unterkühlten Bildern, aber natürlich auch an den vier Protagonisten, von denen keiner im Leben sein Glück gefunden hat.

Dass das nun durch einen Außenstehenden geschehen soll, der zuvor nicht unbedingt mit großen sozialen Kompetenzen glänzte, das mag man etwas seltsam finden. Allgemein ist Nobody From Nowhere kein Film, über den man allzu viel nachdenken sollte. Während das Hobby von Sébastien originell ist, ist die Ausführung nicht ganz so glaubwürdig. Wie schafft es jemand, der seinen Zielpersonen nur kurz begegnet, diese so genau zu studieren, dass er sie ohne Probleme nachmachen kann? Und woher hat er diese Fähigkeiten überhaupt? Das bleibt ebenso im Dunkel wie die Vorgeschichte des Immobilienmaklers. Tragisch sind diese Versäumnisse nicht, dafür verfängt man sich viel zu sehr in der trist-düsteren Atmosphäre, der langsamen Verschmelzung verschiedener Identitäten. Und auch in der fabelhaften Leistung von Mathieu Kassovitz, der in einer Doppelrolle zwei grundverschiedene Typen gleichfalls glaubwürdig darstellt: ein Mann, der zu viel Persönlichkeit hat; ein Mann, der gar keine hat. Bedauerlich, dass einer der Höhepunkte des letztjährigen Festivals bis heute keinen deutschen Verleih finden konnte, verdient hätte er es. Wer des Französischen mächtig ist, darf sich immerhin die recht günstige DVD nach Hause holen.



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Die Geschichte eines Mannes, der anderen ihre Identität stiehlt, hat alles für einen echten Thriller. Und doch ist „Nobody From Nowhere“ vielmehr Drama und Psychogramm, gibt zwar nicht so viele Antworten, wie man vielleicht gern hätte, überzeugt dafür aber mit seiner melancholischen Stimmung, den tristen Bildern und Kassovitz in einer Doppelrolle.
8
von 10