(„Kaki kôba“ directed by Kazuhiro Sôda, 2015)
Austern? Das ist etwas, das man manchmal auf den Speisetellern hat. Oft aber auch nicht. Nichts auf jeden Fall, worüber man im Alltag noch oft nachdenken würde. Nichts, wovon man so genau wissen will, woher es kommt. Kazuhiro Sôda wollte das und verbrachte deshalb mehrere Wochen in der kleinen Hafenstadt Ushimado, wo die Austernzucht ein wichtiger Bestandteil eines unwichtigen Wirtschaftsstandortes darstellt. Ein kurioses Thema, das sich der Japaner da ausgesucht hat, umso mehr, da Oyster Factory mit einer Laufzeit von zweieinhalb Stunden kein kurzes Vergnügen darstellt. Ein Vergnügen ist der Film jedoch, obwohl oder gerade weil es hier irgendwie gar nicht so recht um Austern geht.
Darüber gesprochen wird natürlich, und das auch nicht zu knapp. Und auch zu sehen bekommt der Zuschauer einiges, vom mühsamen Öffnen der Schalen über die Bedienung diverser Maschinen bis hin zu kleinen Verhandlungen. Richtig viel erklärt wird jedoch nicht, stattdessen mischen sich immer wieder Szenen darunter, die fernab von dem Thema sind. Shiro zum Beispiel, ein recht frecher, weißer Kater, der jede Gelegenheit nutzt, sich in fremde Häuser zu schleichen. Spielende Kinder. Oder auch ein älterer Herr, der ins Wasser gefallen ist und ohne fremde Hilfe nicht wieder aus dem Hafenbecken kommt.
Passt nicht rein? Stimmt. Und stimmt gleichzeitig wieder nicht. Nach und nach setzen sich die Mosaiksteine zusammen, ergeben das Bild einer ländlichen Gegend, die irgendwie von der Zeit überrannt wurde. Die einfachen, etwas heruntergekommen Häuschen haben nur wenig mit der High-Tech-Glitzerfassade gemeinsam, die wir gern mit dem Land der aufgehenden Sonne verbinden. In Ushimado scheint es nicht einmal Handys zu geben. Oder Menschen. „Wer hierher kommt, der muss eigentlich ein Verlierer sein, oder?“, sagt Watanabe, einer der Austernzüchter. Und er ist selbst ein Verlierer, seine Heimat, wo er bis zu seinem Tod hatte leben wollen, musste er aufgeben. Fukushima wegen.
Aber er ist einer der wenigen Japaner, die es in das Hafenstädtchen zieht. Der Rest will weg, vor allem die Jugend, auch sein eigener Sohn. Japan, das Land der überalterten Menschen und der fehlenden echten Zukunftsperspektiven. Hier in Ushimado gibt es sie noch: Arbeit. Nur dass sie keiner will. Stattdessen werden Menschen aus dem Ausland eingeflogen. „China kommt“ steht auf einer Notiz, die Sôda an der Wand entdeckt. Damit ist eigentlich nicht das Land an sich gemeint, sondern zwei neue Gastarbeiter aus dem Reich der Mitte, die das machen, was von den Einheimischen kaum einer mehr machen will. Und doch passt es. Oyster Factory erzählt von einem Land, das sich nicht an das Drumherum anpassen konnte, das von anderen überholt wurde, die schneller waren und arbeitswilliger, wie Watanabe es sagt. Oder solchen, die einfach alles an sich reißen, was sie finden – sagt ein anderer.
Es ist diese Beiläufigkeit der vielen Einzelsequenzen, welche den Dokumentarfilm auszeichnet, der mit einem weitschweifigen und zugleich präzisen Blick am Ende doch viel mehr einfängt, als es zunächst den Anschein hat. Kein Werk sicher, welches etwas bewirken wird oder auch nur will. Vielmehr ist das oft mit ein wenig Wehmut verbunden, wenn Sôda die persönlichen Geschichten der Menschen erzählt. Wehmut und Warmherzigkeit. Dass dieses sehr spezielle Thema nicht unbedingt etwas für die großen Lichtspielhäuser in Deutschland ist, liegt auf der Hand. Umso schöner, dass das unspektakuläre Oyster Factory zumindest im Rahmen des japanischen Filmfests Nippon Connection am 24. Mai in Frankfurt am Main gezeigt wird und so den Besuchern einen etwas anderen Blick auf das fernöstliche Land gewährt.
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