(„Mushi-Shi“ directed by Hiroshi Nagahama, 2005)
Teil 114 unseres fortlaufenden Animationsspecials ist da. Und dafür haben wir uns einen ganz besonderen Titel ausgesucht, der irgendwo zwischen Drama, Mystery, Fantasy und Horror angesiedelt. Ein Titel, der bekannte Elemente enthält, dabei aber so einzigartig ist, dass ihn jeder Animationsfan einmal gesehen haben sollte.
Mit dem bloßen Auge sie sind oft nicht zu sehen, die als Mushi bekannten Wesen halten sich lieber im Verborgenen auf. Und doch haben die Menschen immer wieder Kontakt mit diesen seltsamen Lebensformen, die weder pflanzlich noch tierisch sind. Ohne es zu wissen. Mal verstecken sie sich in den Körpern der Menschen, tarnen sich als Stein oder nehmen die Form von Feuer an. Und auch wenn Mushi nicht von Grund auf böse sind, die Begegnungen mit Menschen bringen oft Probleme mit sich. Probleme, die nur ein Mushi-Shi lösen kann, weise Männer und Frauen, die ihr Leben dem Studium der übernatürlichen Wesen gewidmet haben. Einer davon ist Ginko, der durch das Land reist, um den Leuten zu helfen, und dabei viele eigenartige Geschichten erlebt.
Mushi-Shi dürfte einer der bekanntesten Geheimtipps des gesamten Animebereichs sein, kaum eine Bestenliste, die nicht auch jene Serie aus dem Jahr 2005 enthält. Zum großen Blockbuster hat es dennoch nie gereicht, was weniger mit ihrer Qualität zusammenhängt als damit, dass sie kaum etwas mit dem gemein hat, was üblicherweise aus Japan hierherkommt. Das macht schon das Eröffnungslied deutlich: Wo die Konkurrenz größtenteils aus J-Pop schwört, vereinzelt auch mal auf Rock, gibt es hier das wunderbar verträumte Folkjuwel „The Sore Feet Song“ des britischen Singer-Songwriters Ally Kerr zu hören. Mit der Serie selbst hat das natürlich nur wenig zu tun, gibt aber den Ton eines Abenteuers an, das selbst verträumt ist, nie so wirklich da.
Das macht die Adaption eines Mangas von Yuki Urushibara dann auch ein bisschen schwieriger zu verkaufen. Actionszenen gibt es nur selten, hinzu kommt eine elliptische Erzählweise von Regisseur Hiroshi Nagahama (Aku no hana – Die Blumen des Bösen, Detroit Metal City), der gerne mal längere Zeitabschnitte überspringt, ohne dies kenntlich zu machen oder wirklich alle Informationen weiterzugeben. Wer Ginko ist und warum er sich auf die Reise machte, wird beispielsweise zunächst überhaupt nicht erklärt. Erst nach und nach bekommen wir ein paar kleinere Einblicke in seine Vorgeschichte. Aber selbst dann bleiben Fragen offen, genauso zu einzelnen Schicksalen der Figuren: Eine Rahmenhandlung gibt es nicht, sondern 26 größtenteils völlig unabhängige Episoden. Dass Mushi-Shi so mysteriös ist, liegt also nicht nur an dem übernatürlichen Inhalt, sondern auch der Art, wie dieser vermittelt wird.
Ein rein meditatives Wohlfühlabenteuer ist die Reise von Ginko dagegen nicht. Zum einen gibt es immer wieder Ausflüge ins Horrorgenre, die mal explizite Szenen enthalten, oft aber auch nur aus einer unheilvollen Atmosphäre bestehen. Zum anderen sind Ginkos Klienten oft vom Leben gebeutelte Menschen, die teils tragische Schicksale erleiden mussten, in manchen Fällen auch grausame Entscheidungen zu treffen haben. An dieser Stelle erinnert Mushi-Shi dann durchaus an andere Vertreter des Animebereichs, kombiniert den Geisterkrimi Mononoke mit dem traurigen Horrordrama Vampire Princess Miyu, abgerundet durch eine nachdenklich stimmende Reise im Stil von Kino’s Journey. Wer diese drei Titel kennt, weiß dass das nicht die schlechtesten Vorbilder sind, Mushi-Shi steht den Hochkarätern dann auch qualitativ glücklicherweise nicht nach.
Da hier die Episodenzahl deutlich größer ist, kommt es fast zwangsläufig auch zu etwas größeren Qualitätsschwankungen als bei der Konkurrenz oben. Insgesamt halten die sich aber bemerkenswert in Grenzen, selbst die schwächeren Geschichten haben oft interessante Aspekte, in den stärksten Momenten ist der Anime wie kaum ein anderer bewegend und spannend zugleich. Bemerkenswert ist dabei aber auch der große Einfallsreichtum. Das Korsett mag ein bisschen eng sitzen, das Konzept von Mushi-Shi lässt dramaturgisch keine große Abwechslung zu. Innerhalb dieses Rahmens gibt es jedoch eine ganze Reihe kreativer Geschichten über Gedächtnisverlust, ein blindes Mädchen oder auch ein eiskaltes Feuer.
Dass die Serie ein großer Genuss ist, liegt nicht zuletzt auch an der Umsetzung selbst. Das Animationsstudio Artland (Megazone 23, Demon King Daimao) dürfte nur wenigen geläufig sein, in den bald 38 Jahren seines Bestehens wurde nur relativ wenig produziert, noch weniger davon kam nach Deutschland. Wie gut sie sein können, zeigen die japanischen Künstler hier aber eindrucksvoll: Die von gedämpften Farben geprägten Landschaften sehen oft atemberaubend aus, die Computereffekte fügen sich trotz des historischen Settings – die Serie spielt Anfang des 20. Jahrhunderts – meist sehr harmonisch ein. Abgerundet wird die Sinneserfahrung durch eine fantastische Hintergrundmusik, die in ihren unheimlichen Momenten an Boogiepop Phantom erinnert, und diverse akustische Spielereien: Wenn Ginko in einer Folge im Meer versinkt und auch seine Gedanken daraufhin anders klingen, dann zeigt das eine Liebe zum Detail, die man nur selten in dem Bereich spendiert bekommt. Leider hat es die Manga-Adaption bis heute nicht nach Deutschland geschafft, ist aber relativ günstig aus den USA oder Frankreich zu bekommen, bzw. als legaler Stream auf Viewster zu sehen. Und wer danach noch Lust auf mehr hat, darf sich an der zweiten Staffel erfreuen oder auch der Realfilmversion von Akira-Mastermind Katsuhiro Ôtomo.
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