(„Captain Fantastic“ directed by Matt Ross, 2016)
Es war einmal ein Vater, der lebte mit seinen sechs Zwergen hinter den nördlichen Bergen im tiefen tiefen Wald. Dort lernten sie, wie man jagt, klettert, Shakespeare zitiert und über Atomphysik diskutiert. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie dort noch immer. So oder so ähnlich hatte sich Ben (Viggo Mortensen) die Zukunft vorgestellt, als er vor vielen Jahren mit seiner Familie in die nordwestlichen Wälder der USA zog, um seinen Kindern eine alternative Lebensweise bieten zu können. Zwischen Bogenschießen, Gemüseanbau und der täglichen Literatur versucht er, sie so gut wie ihm nur möglich zu erziehen, während sich Leslie (Trin Miller), die Mutter der sechs Wilden, in psychischer Behandlung befindet. Als diese Selbstmord begeht, bricht für die Familie eine Welt zusammen. Für Trauer bleibt jedoch nicht viel Zeit, denn die Beerdigung soll schon sehr bald in ihrer alten Heimat stattfinden, welche sie längst hinter sich gelassen hatten. Dass Leslies Vater Jack (Frank Langella) dem trauernden Ehemann mit der Polizei droht, sollte er es wagen, zur Beerdigung zu erscheinen, macht die Angelegenheit nicht leichter. Seine Kinder sind da anderer Meinung, und so machen sie sich auf einen Road Trip der besonderen Art, auf dem viele der Kinder neue Erfahrungen machen und Bens Erziehungsmethode auf die Probe gestellt wird.
Die Norm. Was ist das eigentlich? Die Norm ist das, was uns permanent vor Gesicht gehalten und von der Gesellschaft eingehämmert wird. Alles außerhalb ist grotesk, abnormal und verwerflich. Wie erziehe ich also meine Kinder richtig? Antworten darauf gibt es viele, aber der goldene Pfad gen Elternglück blieb vielen bislang verwehrt. Es gibt Menschen, die von all dem genug haben und nach alternativen Möglichkeiten suchen, um ihren Sprösslingen ein Leben fern der digitalen Konsumgesellschaft zu bieten. Als Neandertaler, Hinterwäldler und Hippies werden diese beschimpft, abgestempelt und kopfschüttelnd verurteilt. Den Schimpfenden fehlt es meist an Perspektive und nicht selten an eigenem Mut, den Absprung zu wagen oder sich zumindest mit der Materie zu beschäftigen. Die Norm ist einfacher, die Norm ist naheliegender, und wenn es alle machen, kann es ja nicht falsch sein.
Regisseur Matt Ross (28 Hotel Rooms, 2012) spricht mit dieser Thematik aus Erfahrung und Interesse, verbrachte er in seiner Kindheit selbst Zeit in einer Kommune und erlebte viele Szenen des Films auf seine eigene Art und Weise. Ein Märchen ist das Ganze zwar nicht, einen Funken Nimmerland kann man dem Zuhause der Off Grid lebenden Familie dennoch abgewinnen. Diese begleiten wir auf Schritt und Tritt, tauchen in die alltäglichen Abläufe ab und lernen erste Fassetten der Kinder kennen. Da wäre Bo (George MacKay), der Erstgeborene, der seinem Vater in nichts nachstehen möchte, aber gerne aufs College gehen würde. Die beiden ältesten Töchter Kielyr (Samantha Isler) und Vespyr (Annalise Basso), die ihrer Mutter von Tag zu Tag ähnlicher werden und Rivalinnen sind. Rellian (Nicholas Hamilton), der seinem Vater Vorwürfe für den Tod der Mutter macht, innerlich aber dessen Anerkennung sucht. Und die beiden Jüngsten Zaja (Shree Crooks) und Nai (Charlie Shotwell) die alles hinterfragen, vieles zum ersten Mal erleben und einen mit ihrem kindlichen Humor verzaubern.
Nach der Einleitung und der Vorstellung der verschiedenen Charaktere lässt der Road Trip nicht lange auf sich warten. Dort lernen Ben und die Kinder die Welt aus einer anderen Perspektive kennen und beginnen zugleich, ihre eigene zu hinterfragen. Sei es die erste romantische Begegnung mit dem anderen Geschlecht, der Besuch bei Bens Schwester Harper (Kathryn Hahn) und ihrer Familie oder das Einkaufen im Supermarkt. Kein Moment vergeht, wo die Familie nicht fehl am Platz wirkt und dennoch genau richtig ist. Dem frischen Wind an charakterlicher Vielfalt ist es dann auch geschuldet, dass Bens Erziehung auf die Probe gestellt wird. Bislang war er das Maß aller Dinge, der Entscheidungsträger, das Alphatier, dem seine Jungen blind vertrauten. Sieht er unabhängige Freigeister mit Überlebenssinn, sehen andere Minderjährige die an Bergwänden herumklettern, in Supermärkten stehlen und denen jegliche Grenzen fehlen. Nach all den Abenteuern wird einem diese Seite der Medaille erst bei der Konfrontation mit Claires Vater so wirklich bewusst und verleiht der Geschichte eine neue Tiefe.
Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück ist wunderbar authentisch, fundamental erfrischend und herzhaft ehrlich. Die Gruppe an Jungdarstellern rundum einen wahrhaft fantastischen Viggo Mortensen lässt auf eine blühende Generation an kommenden Schauspielern hoffen, deren Talent in jeder Szene des Films zur Geltung kommt. Die drastische Gesellschaftskritik kann durch Witz und Werte durchweg begeistern, flüchtet sich in einigen Momenten aber in die Schwarz und Weiß gefärbte Darstellung der sich gegenüberstehenden Parteien. Der letztendliche Konflikt zwischen Ben und Jack wirkt trotz 120 Minuten Spielzeit überhastetet, das darauf folgende Finale der Films nimmt einen dennoch erneut mit auf die bis dahin fesselnde Familienachterbahn der Gefühle.
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