(„Die Geschwister“ directed by Jan Krüger, 2016)
Bei seinem Beruf hat Thies (Vladimir Burlakov) längst gelernt, Gefühle und Pflicht voneinander zu trennen. Denn im Trendbezirk Neukölln in Berlin werden die Wohnungen knapp, Schufa, Gehaltsnachweis oder Bürgschaft sind mittlerweile Pflicht, sonst darf der junge Immobilienverwalter nichts vermitteln. Selbst wenn er wollte. Als er jedoch dem Polen Bruno (Julius Nitschkoff) begegnet und mit ihm eine Affäre beginnt, wird auch der sonst so prinzipientreue Thies schwach. Heimlich überlässt er Bruno und dessen Schwester Sonja (Irina Potapenko) eine leerstehende Wohnung, ist bereit dafür sogar seinen Job zu riskieren. Doch trotz dieser Geste gestaltet sich die Beziehung schwierig, vor allem die ablehnende Sonja sorgt kontinuierlich für Spannungen.
Ein bisschen irreführend ist der Trailer von Die Geschwister ja schon: Da turnen zwei attraktive junge Männer durch die Betten, gleichzeitig wird impliziert, dass ein dunkles Geheimnis hinter der Beziehung von Bruno und Sonja steckt. Beides stimmt auch, gleichzeitig wieder nicht, der vierte Film von Regisseur und Co-Autor Jan Krüger ist kein Erotik-Thriller, sondern in erster Linie ein Drama. Ein Drama, das von Nähe erzählt, von Distanz, von der Sehnsucht nach Glück, wo es keines gibt.
„Es gibt nichts umsonst“, sagt Sonja, als Thies sie und ihren Bruder in die Wohnung lässt, die die Geschwister nichts kosten soll. Und fragt, was passiert, wenn es zu Streit kommt. „Das müsst ihr dann unter euch ausmachen“, erwidert Thies mit einem verdrucksten Lächeln. Zwei Welten sind es, die hier aufeinanderprallen: die misstrauische Sonja, der etwas naiv nach dem Glück schielende Thies. Eine, die ihr Leben lang nicht viel hatte. Einer, der alles hatte und doch auch nichts. Das Grimm-Märchen vom „Brüderchen und Schwesterchen“ soll Krüger zu seinem Film inspiriert haben. Darin sind ein Mädchen und ihr Bruder untrennbar, selbst als Letzterer in ein Reh verwandelt wird.
Untrennbar sind auch Bruno und Sonja, selbst wenn hier die Geschlechter ausgetauscht wurden, es nun der Bruder ist, der mit dem Königssohn ins Bett steigt. Und es ist auch kein Märchen, das Die Geschwister da mit uns teilt. Zumindest keines, das man seinen Kindern erzählen wollte, um sie zum Einschlafen zu bringen. Dafür ist es doch zu traurig, was hier passiert. Zu traurig für Thies, zu traurig für die Geschwister. Kleine Momente des Glücks gibt es: Wenn die drei an einer Stelle ausgelassen durch die Stadt rennen, möchte man meinen, dass sie bis an ihr Lebensende zusammen bleiben können in dieser renovierungsbedürftigen Wohnung, in der eigentlich niemand sein darf.
Immer wieder nähern sich die drei an, entfernen sich wieder voneinander, versuchen sich in der Dreierkonstellation zu finden und auch einander zu finden. Das ist sehr viel leiser und unaufgeregter, als man im Vorfeld vielleicht erwarten konnte, die nur wenig beglückenden Wertungen auf imdb sind sicher auch ein Ausdruck davon, dass das Publikum etwas anderes wollte. Das sollte man Die Geschwister jedoch nicht zum Vorwurf machen, diesem Drama, das sich nach einem recht eiligen Start später umso mehr Zeit lässt, die drei Protagonisten zu beobachten und die zwischenmenschlichen Fallstricke herauszuarbeiten. Das ist nicht spektakulär, selten märchenhaft, lässt so manche Frage auch unbeantwortet – Fragen zur Vorgeschichte der beiden Geschwister, Fragen auch zu Brunos wahren Absichten –, und ist doch am Ende ein sehenswerter Film über eine schwierige Gruppendynamik, die schwierige Situation illegaler Einwanderer und die schwierige Suche nach dem Glück. Das Glück in der Fremde, das Glück in sich, das Glück beim anderen.
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