(„Daredevil – Season 1“, 2015)
Seit einem Unfall in seiner Kindheit ist Matt Murdock (Charlie Cox) blind. Blind, aber nicht hilflos: Während seine Augen ihre Funktion eingestellt haben, wurden seine anderen Sinne weit über das Menschenmögliche hinaus geschärft – was er nutzt, um nachts Jagd auf Verbrecher zu machen. Tagsüber versucht er mit seinem Freund Franklin Nelson (Elden Henson) im Rahmen des Gesetzes den Menschen zu helfen. Doch so richtig funktionieren will das mit der Anwaltskanzlei nicht. Immerhin eine Klientin ziehen sie jedoch an Land: Karen Page (Deborah Ann Woll), die einen Kollegen ermordet haben soll, sich dabei aber an nichts erinnern kann. Zusammen machen sich die beiden auf die Suche nach der Wahrheit und stoßen dabei immer wieder auf den ominösen Unterweltboss Wilson Fisk (Vincent D’Onofrio).
Während das Marvel Cinematic Universe seit einigen Jahren schon die weltweiten Kinokassen fest in der Hand hat, selbst B-Helden wie Guardians of the Galaxy und Doctor Strange zu Blockbustern hochgepusht werden, sind die zahlreichen Versuche, auch im Fernsehen Fuß zu fassen, von eher gemischten Erfolgen belohnt. Eine der Serien, die dabei noch den größten Eindruck hinterlassen haben, ist die Netflix-Produktion Daredevil. Und das nicht, weil sie das Prinzip der Filme einfach fürs Heimkino adaptiert hätten. Nein, vielmehr ist die Geschichte des blinden Anwalt-Rächers in vielerlei Hinsicht das komplette Gegenteil der großen Filmbrüder.
Das fängt schon damit an, dass Daredevil nichts damit am Hut hat, die gesamte Welt zu retten oder mächtige Organisationen zu Fall bringen zu wollen. Ihm reicht es schon, wenn seine direkte Nachbarschaft einigermaßen funktioniert. Statt effektgeladener Massenschlachten gibt es hier deshalb vor allem Hand- und Fußkämpfe. Das sieht zwar weniger schick aus, in den meisten Fällen dafür aber immerhin authentisch – wenn der Titelheld nicht gerade wieder übermenschliche Reflexe zeigt. Auch seine Gegner sind verhältnismäßig bescheiden, wollen einfach nur ein bisschen Macht und Geld, zeigen bei Fisk sogar durchaus menschliche Züge. Und auch während der übersinnlichen Momente verzichtet die Serie anders als der Film Daredevil auf visuelle Spielereien.
Das soll aber nicht bedeuten, dass es hier nichts zu sehen gäbe: Was Daredevil an Big-Budget-Tricks mangelt, macht die Serie durch pure Kraft wieder wett. Und Brutalität. Gerade weil die Marvel-Filme doch eine recht große Zielgruppe ansprechen sollen, ist es geradezu erfrischend, wie hier Köpfe zu Brei geschlagen werden, Gewalt auch wirklich nach Gewalt aussehen darf. Dazu passt auch, dass über weite Strecken auf Humor verzichtet wird. Es gibt keine markigen One-Liner, keine großen Popzitate oder Anspielungen.
Stattdessen rückt die von Drew Goddard (The Cabin in the Woods, Cloverfield) entworfene Serie die Figuren stärker in den Mittelpunkt. Teilweise ist das sehr interessant: Anders als die meisten seiner Kollegen ist Murdock eine stark von inneren Zwiespälten geprägte Person. Seine alternative Existenz als nächtlicher Rächer rückt ihn natürlich in die Nähe von Batman, Kostüm und die leicht grummelige Stimme erinnern ebenfalls an den Dunklen Ritter. Anders als bei dem DC-Comics-Helden neigt Daredevil aber dazu, immer einen ganzen Schritt weiter zu gehen, ist mehrfach auch an der Schwelle zu Mord, woran er innerlich zugrunde geht. Da mag Christopher Nolan in seiner Batman-Trilogie noch so sehr über Zerrissenheit gesprochen haben, Daredevil zeigt, wie es geht. Schön ist zudem, dass hier Frauen tatsächlich eine Rolle spielen: Ob nun Karen oder Matts heimliche Krankenschwester Claire (Rosario Dawson), bis hin zur Grande Dame des Verbrechens, Madame Gao (Wai Ching Ho), das schwache Geschlecht hat hier einiges zu sagen und zu tun.
Und doch ist es ausgerechnet der Inhalt, an dem Daredevil scheitert. Schade ist beispielsweise, dass die Anwaltstätigkeiten von Matt und Foggy komplett unwichtig sind. Es wird zwar immer wieder gesagt, dass sie keine Klienten haben, wodurch sich die beiden finanzieren, bleibt dann aber völlig offen. Gerade für eine Serie, die sich sehr bodenständig gibt, fehlt es hier an einem offensichtlichen Alltag, und damit das, was eine duale Persönlichkeit so spannend macht. Anstatt beispielsweise wie viele der heutigen Serien eine Episodengeschichte mit einer episodenübergreifenden Geschichte zu kombinieren, gibt es hier eigentlich nur Letztere. Und die ist nicht mal wirklich spannend.
Die Unterwelt ist so mächtig, dass ihr Polizei, Medien und Politik gehorchen, das ist nun wirklich kein originelles Szenario. So lange die einzelnen Verbrechergruppierungen gegeneinander arbeiten, ist das noch recht unterhaltsam, zumal mit Amerikanern, Chinesen, Japanern und Russen das Ganze ein internationales Flair bekommt. Zum Ende hin konzentriert sich die Serie aber auf Fisk, und damit das langweiligste aller Elemente. Ein komplexer Charakter soll er sein, in seiner Liebe für die Stadt das Gegenstück zu Murdock bilden. Tatsächlich wird aber nie gezeigt, inwiefern diese in Worten ständig formulierte Liebe mit seinen Taten zusammenhängt. Eigentlich ist die Figur nicht mehr als ein übergewichtiger Wüterich, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Fassung verliert und mit Gewalt droht. Ein bisschen wie Donald Trump, nur mit weniger Haaren. Dass der Charakter zudem von dem hier stark zum Overacting neigenden Vincent D’Onofrio malträtiert wird, lässt Fisk zu einer zwar brutalen, aber kaum ernstzunehmenden Witzfigur werden. Die Zutaten für eine wirklich gute Serie sind da, von den eindrucksvollen Actionszenen über die düsteren Kulissen bis zu einem gut gelaunten Heldentrio. Nur weiß zumindest die erste, recht repetitive Staffel nicht wirklich viel damit anzufangen.
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