(„Die Mitte der Welt“ directed by Jakob M. Erwa, 2016)
Alles wie immer? Nicht ganz: Als der 17-jährige Phil (Louis Hofmann) nach dem Sommercamp zurück nach Hause fährt, merkt er gleich, dass seine Zwillingsschwester Dianne (Ada Philine Stappenbeck) sich etwas komisch verhält. Ob es daran liegt, dass Glass (Sabine Timoteo) schon wieder einen neuen Liebhaber (Sascha Alexander Geršak) hat? Das sollte sie eigentlich gewohnt sein, seit ihrer Kindheit ist ihre Mutter nie lange bei einem Mann geblieben. Nicht einmal die Identität des Vaters hat die alleinerziehende Glass je preisgegeben. Aber Phil hat ohnehin besseres zu tun. Da wäre zum einen seine beste Freundin Kat (Svenja Jung), mit der er jede freie Minute verbringt. Aber auch der neue, geheimnisvolle und unglaublich gutaussehende Mitschüler Nicholas (Jannik Schümann) hat es ihm angetan.
Ein junger Außenseiter, der sich das erste Mal verliebt, in einen Vertreter des eigenen Geschlechts auch noch, das schreit eigentlich nach einer Coming-out-Geschichte. Nach unterdrückten, verbotenen Gefühlen und dem Auflehnen gegen ein traditionelles Umfeld. Nicht so bei Die Mitte der Welt. Dass Phil schwul ist, das weiß jeder: er selbst, die Familie, die Freundin. Und es interessiert auch niemanden so wirklich. Das liegt nicht zuletzt daran, dass in seiner Familie Traditionen Fremdwörter sind. Mehr noch, Glass zelebriert ihre Andersartigkeit geradezu, genießt es, wenn die verstockten Bürger in ihrem kleinen Ort schockiert sind.
Dem steht der Film selbst, die Adaption des gleichnamigen Jugendromans von Andreas Steinhöfel, in nichts nach. Wenn sich beispielsweise das komplette Klassenzimmer rot verfärbt, als Phil das erste Mal Nicholas erblickt, oder grafische Elemente ins Bild ploppen, dann sind das nur zwei von vielen Beispielen, wie sich Regisseur und Drehbuchautor Jakob M. Erwa spielerisch von Konventionen löst. Das mag mancher Zuschauer vielleicht als störend empfinden, vielleicht sogar ärgerlich, wie sehr die Inszenierung die Geschichte zuweilen überlagert. Und doch passt es sehr gut zusammen. Erwa, der zuletzt in Homesick in die Abgründe der Menschen schaute, gelingt ein lockerleichtes, oft auch humorvolles Abbild einer jungen Liebe, die in ihrem Übermut auch kein Problem damit, kitschig zu werden. Denn so ist Phil nun mal: ein Träumer, ein netter Kerl. Und eine kleine Drama Queen, die oft nicht weiß, was sie will.
Aber das will man ihm nicht übelnehmen, so wie alle Figuren hier – trotz ihrer offensichtlichen Schwächen – ungemein sympathisch sind. Selbst wenn sie sich gerade blöd verhalten, anderen oder sich selbst alles unnötig schwermachen, man drückt ihnen dann doch die Daumen, dass sie sich am Ende alle finden. Das liegt sicher auch am Rest der Ortschaft, welches im besten Fall nichtssagend, oft auch einer Karikatur nahe das Bild von intoleranten, steifen Provinzlern bis über den Rand hinaus füllt. Es liegt aber auch an der wunderbaren Besetzung. Das Ensemble überzeugt durch die Bank weg, junge wie erfahrene Schauspieler meistern ihre jeweiligen Rollen mit der notwendigen Mischung aus unbekümmerter Natürlichkeit und notwendiger Schwere.
Letztere wird gegen Ende hin jedoch übertrieben. Wie auch die literarische Vorlage, so lässt auch die Verfilmung ein Gespür dafür vermissen, wie viel Drama eine solche Geschichte verträgt. Gerade auch weil Die Mitte der Welt trotz der Neigung zu versponnenen Träumereien über lange Zeit so nahe bei den Figuren und der konkreten Lebenswelt junger Menschen war, überraschen die inhaltlichen Entgleisungen. Das mag zwar zu dem Überschwänglichen der jungen und sexuell erstaunlich expliziten Romanze passen, macht es aber unnötig schwer, ihr zu glauben – zumal mancher Faden nur ein sehr grobes Ende findet. Insgesamt überwiegen aber die positiven Aspekte, der einfühlsame Coming-of-Age-Film ist eine ebenso charmante wie exzentrische Rückkehr in ein Alter, in dem einem die ganze Welt offen steht, mitreißt, verwirrt und manchmal eben auch richtig weh tut.
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