The Anthem of the Heart
© KOKOSAKE PROJECT

The Anthem of the Heart

(„Kokoro ga Sakebitagatterunda“ directed by Tatsuyuki Nagai, 2015)

the-anthem-of-the-heart
„The Anthem of the Heart“ ist seit 28. Oktober auf DVD und Blu-ray erhältlich

Sie plappere zu viel, muss sich Jun Naruse immer wieder anhören. Und zumindest an dem Tag, als sie ihren Vater mit einer unbekannten Frau hat aus einem Love Hotel kommen sehen, wäre es vielleicht wirklich besser gewesen, nichts zu sagen. Zumindest nicht zu ihrer Mutter. Als die daraufhin die Scheidung einreicht und das Mädchen sich lauter Vorwürfe anhören muss, kommt es zu einer schicksalshaften Begegnung: Jun läuft nachts einem magischen Ei über den Weg, welches sie mit einem Fluch belegt. Wann auch immer sie fortan zu sprechen versucht, wird sie von so starken Krämpfen geplagt, dass kein Wort mehr über ihre Lippen kommt. Jahre später ist aus dem lebhaften Kind eine zurückgezogene, schüchterne Jugendliche geworden, die wie die anderen Schüler auch keine wirkliche Lust hat, das Programm des Lokalaustauschs zu organisieren. Doch dann entdeckt Komitee-Mitglied Takumi, dass Jun ihre Gefühle durch Lieder ausdrücken kann. Warum also nicht ein Musical aufführen?

Lange Zeit war die alternative Animeprogrammschiene noitaminA ja ausschließlich Serien vorbehalten. Später, längst zur Marke geworden, nutzte man den Bekanntheitsgrad aber auch für den einen oder anderen Kinofilm. Dabei handelte es sich anfangs noch um Folgewerke der gezeigten Serien, etwa bei Eden Of The East – Der König von Eden oder Psycho-Pass – The Movie. Seit vergangenem Jahr dürfen aber auch inhaltlich losgelöste Filme den verkaufsfördernden noitaminA-Stempel tragen, The Anthem of the Heart ist der erste dieser Filme, der es nun auch hierher schafft.

Wobei: Es wird zu keiner Zeit die Gelegenheit ausgelassen, die Verbindungen zu einer anderen Serie aus der Programmschiene herzustellen: AnoHana – Die Blume, die wir an jenem Tag sahen. Das liegt zunächst erst einmal daran, dass sich quasi das komplette damalige Team erneut zusammengetan hat. Regie führt wieder einmal Tatsuyuki Nagai, das Drehbuch stammt von Mari Okada, umgesetzt wurde es von dem Animationsstudio A-1 Pictures. Und auch inhaltlich gibt es Anknüpfungspunkte, selbst wenn beide Werke eigentlich völlig unabhängig voneinander sind: Erneut dreht sich hier alles um eine Gruppe von Schülern, die sich mit unterdrückten Gefühlen auseinandersetzen müssen, mit Scham und Schuld, es einfach nicht schaffen, ihr Innerstes in Worte zu packen.

Das ist bei The Anthem of the Heart noch einmal etwas kräftiger ausgearbeitet. Kam bei AnoHana durch den Geist von Menma ein übernatürliches Element ins Spiel, ist es dieses Mal das magische Ei, was den Alltag nicht mehr ganz so alltäglich werden lässt. Das Bild eines Eis zur Verdeutlichung des Fluches zu verwenden, klingt zunächst wenig intuitiv, schließlich wird da ein Symbol der Geburt ins Gegenteil verkehrt: der Tod der Sprache. Später ändert sich die Verwunderung jedoch, als der Film immer mehr Züge eines Coming-of-Age-Dramas annimmt, es also darum geht, dass die verschüchterten, problembeladenen Jugendlichen zu sich und ihrer Stimme finden.

Sonderlich subtil ist das Gleichnis nicht, so wie der Film von den märchenhaften Einschüben – Jun träumte schon als kleines Mädchen von Schlössern und Prinzen – einmal abgesehen, nicht unbedingt Neuland betritt. Und doch muss man Okada zwei Punkte zugutehalten. Zunächst einmal hat sie keine Angst vor Hässlichkeit. Wenn Jun in einem ihrer verbalen Momente eine wüste Beschimpfung nach der anderen raushaut, dann passt das so gar nicht zu den sonst auf Niedlichkeit getrimmten verdrucksten Schülerinnen, wie wir sie immer wieder in Animes vorgesetzt bekommen. Und auch andere Protagonisten dürfen sich von einer wenig schmeichelhaften Seite zeigen. Der zweite Pluspunkt: Okada verzichtet auf ihre emotionalen Exzesse, die sie zuvor in anderen Jugenddramen wie Black Rock Shooter und Selector Infected WIXOSS gezeigt hat.

Doch trotz dieser Vorteile und einem Ende, das sich nicht ganz an die Erwartungen hält: Die Geschichte gehört nicht unbedingt zu den großen Stärken des Films. Vor allem bei den Figuren selbst wurde ziemlich geschludert. Juns Charakterisierung besteht eigentlich nur aus ihrer unterwürfigen Verunsicherung und dem Sprachfluch. Bei den anderen reicht es oft nicht mal zu einer vergleichbaren Oberfläche. Über die Komitee-Kollegen Daiki und Natsuki erfährt man beispielsweise kaum etwas. Zwar stattet The Anthem of the Heart auch ihnen einzelne Besuche ab, Daikis Baseballteam bekommt etwa eine eigene Nebenhandlung. Doch trotz einer großzügigen Laufzeit von knapp zwei Stunden reicht das nicht wirklich aus, um das Profil der Figuren zu schärfen. In der Hinsicht war AnoHana dann doch das deutlich stimmigere Werk. Und auch das unterhaltsamere: Humor gibt es bei dem spirituellen Verwandten gar nicht, man ergibt sich der Schwere des eigenen Themas. Das ist prinzipiell auch kein Problem, insgesamt fehlt es in der etwas erzwungenen Ernsthaftigkeit aber an Leben – gerade auch, wenn man den Film mit dem thematisch ähnlichen Stimme des Herzens – Whisper of the Heart vergleicht.

Wo The Anthem of the Heart keinen Vergleich zu scheuen braucht, ist jedoch die audiovisuelle Umsetzung. Die Hintergründe sind detailliert, teilweise fast fotorealistisch, nehmen uns mit in eine japanische Kleinstadt. Die Figuren sind da etwas schlichter gehalten, aber doch ausdrucksstark genug, um trotz fehlender Sprache die Geschichte zu erzählen. Abgerundet wird der Film von einem schönen Soundtrack, der mal im klassischen Bereich angesiedelt ist, mal bekannte Musicalnummern enthält. Das reicht zwar nicht, um die Schwächen der Geschichte auszugleichen, macht den Anime aber doch zu einem grundsoliden Jugenddrama, das die Anhänger der gefühlsbetonten japanischen Popkultur zufriedenstellen sollte.



(Anzeige)

„The Anthem of the Heart“ erzählt die Geschichte von vier Jugendlichen, die sich mit unterdrückten Gefühlen herumplagen. Das ist trotz der märchenhaften Elemente recht nah am Alltag, hätte jedoch mehr Tiefe und Leben vertragen können. Dafür sieht das Animedrama oft sehr gut aus, ist in audiovisueller Hinsicht ein Genuss.
6
von 10