(„Jessica Jones – Season one“, 2015)
Den ganz großen Erfolg hat Jessica Jones (Krysten Ritter) als Privatdetektivin ja nicht. Immer wieder gerät sie mit Kunden aneinander, ist auch dank ihres gesteigerten Alkoholkonsums nur schwer vermittelbar. Wäre da nicht die Anwältin Jeryn Hogarth (Carrie-Anne Moss), welche ihr regelmäßig Aufträge zuschustert, es sähe ganz düster um sie aus. Dabei hat Jessica einige besondere Kräfte, die ihr bei der Arbeit helfen, beispielsweise ihre übermenschliche Stärke oder ihre enorme Heilungsrate. Beides braucht sie auch, als sie nach der vermissten Hope Shlottman (Erin Moriarty) suchen soll. Denn hinter der Entführung steckt niemand anderes als Kilgrave (David Tennant), der andere Menschen mithilfe seiner Gedankenkraft kontrollieren kann und mit dem Jessica eine gemeinsame, höchst unerfreuliche Vergangenheit hat.
Die unzähligen Adaptionen von Marvel-Comics sind doch alle gleich? Nicht so ganz. Nachdem der Streamingdienst Netflix schon bei seiner ersten Serie Daredevil ungewohnt düster wurde, die selbstironischen Oneliner und Effektschlachten zugunsten einer beachtlichen Brutalität und Körperlichkeit aufgab, ging er bei seiner zweiten Produktion noch einen ganzen Schritt weiter. Normal? Ausgeglichen? Ein Held? Das sind Attribute, die man hier auf niemanden wirklich anwenden wollte. Jessica Jones hat extreme Bindungsschwierigkeiten, eine traumatische Vergangenheit und hängt an der Flasche. Ihre beste Freundin und Adoptivschwester Patsy (Rachael Taylor) ist nach eben dieser Vergangenheit paranoid geworden. Deren Love Interest Will Simpson (Wil Traval) bekämpft eine Begegnung mit Kilgrave durch Tabletten, Nachbar Malcom (Eka Darville) ist gleich ganz drogenabhängig. Der ebenfalls mit Superkräften ausgestattete Luke Cage (Mike Colter) kommt über seinen persönlichen Verlust nicht hinweg, Hogarth ist auf ihrem Karriereweg zu einer verbitterten, über Leichen gehenden Frau geworden. Dann wäre da noch Kilgrave, der gleich die ganze Menschheit für vergangenes Unrecht bestrafen möchte. Und das sind nur die Hauptfiguren, am Rande des Elendes finden sich noch diverse kleinere Unglücke – reale wie eingebildete.
Ganz schön harter Stoff ist es, der einem hier vorgesetzt wird. Übertrieben? Auch das. Die Anhäufung tragischer Schicksale und zerstörter Existenzen ist in dieser Konzentration trotz der geerdeten Einsätze kaum mit dem Konzept der Glaubwürdigkeit vereinbar, soll es aber auch gar nicht sein. Das auf einem 2001 gestarteten Comic basierende Jessica Jones ist vielmehr die Mischung aus krachender Fantasy-Sci-Fi-Action, ein wenig Detektivarbeit und einem Blick in die menschlichen Abgründe. Dass dieser etwas andere Zugang zum Superheldengenre aufgeht, liegt in erster Linie an den faszinierenden Figuren und den fantastischen Darstellern.
Vor allem das Duell von Jessica und Kilgrave, untrennbar miteinander verbunden, ist es, das einen über die 13 Folgen hinweg an den Fernseher fesselt. Jessica entspricht dabei dem gerade im skandinavischen Krimi gern verwendeten Bild des heruntergekommenen, von persönlichen Teufeln gejagten Cops. Bemerkenswert ist dabei jedoch, dass es eben eine Frau ist, die mit Schimpfwörtern um sich wirft, niemanden in ihrer Nähe erträgt und zur Not Gewalt anwendet. Viel Gewalt. Auch sonst sind es hier oft die Frauen, die den Ton angeben, die sich nichts gefallen lassen wollen, mal mit Waffen, Worten oder Intrigen ihre Ziele verfolgen. Der recht farblose Luke Cage kann es mit dieser feministischen Urgewalt kaum aufnehmen, ist letztendlich das schwächste Glied in der seelisch gestörten Kette.
Am anderen Ende findet sich Kilgrave wieder, der den Beweis antritt, dass auch Marvel faszinierende Gegenspieler aufbringen kann. Wie bei der „Heldenseite“ auch, so ist seine Figur nicht ganz eindeutig auf dem gut-böse-Spektrum anzusiedeln, so wie sich Jessica Jones rundum im moralischen Grausumpf von Hell’s Kitchen sudelt. Mal abstoßend, dann wieder bemitleidenswert, vor allem aber furchteinflößend wird durch den durch Broadchurch bekannten Schauspieler David Tennant eine der spannendsten Figuren des Marvel-Universums draus. Furchteinflößend zum einen, weil dem kontrollsüchtigen Kilgrave das Konzept des freien Willens und damit von Moral fehlt. Zum anderen, weil sich Jessica – und damit der Zuschauer – nie ganz sicher sein kann, wer gerade aus freiem Willen handelt und wer unter dem Einfluss des Verbrechers agiert. Die Privatdetektivin kann noch so stark sein, durch die Involvierung von Unschuldigen sind ihr oft in einer frustrierenden Hilflosigkeit die Hände gebunden.
Die Kehrseite der Medaille: Die Serie kommt oft nicht wirklich voran, wie schon bei Daredevil ist die Laufzeit länger, als es die Geschichte erfordert. Ein bisschen Abwechslung kommt zwar durch Nebenhandlungen hinein, aber nicht genug, um ab der Hälfte die eine oder andere Länge zu vermeiden. Außerdem geht den Kämpfen durch die involvierten Superkräfte die Dringlichkeit des blinden Rächers abhanden: Wenn Menschen durch die Luft fliegen und durch Wände prügeln können oder über eine undurchdringliche Haut verfügen, dann ist das für die Spannung nicht ganz so förderlich. Aber auch wenn Jessica Jones hier und da mal schwächelt, die Detektivtätigkeiten recht oberflächlich gestaltet sind, ist sie doch eine der interessantesten Marvel-Adaptionen der letzten Zeit und macht neugierig, was bei den zahlreichen bereits angekündigten TV-Kollegen noch alles passieren wird.
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