Für die Polizei ist der Fall klar: Laura (Bárbara Lennie) ist tot, ermordet durch einen Schlag auf den Hinterkopf. Und die einzige Person, die als Täter infrage kommt, ist ihr früherer Geliebter Adrián (Mario Casas). Schließlich finden sich seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe und er ist der einzige im Hotelzimmer, das von innen abgeschlossen ist. Welche Fragen sollten da noch offen bleiben? Eine Menge. Zumindest für seine Anwältin Virgina Goodman (Ana Wagener), die fest davon überzeugt ist, dass hinter der Geschichte mehr steckt und der Beschuldigte zuvor einiges verschwiegen hat. Aber was? Und weshalb?
Lange haben wir warten müssen, bis sich Oriol Paulo zurückgemeldet hat. Vier Jahre ist es her, dass der ursprünglich als Drehbuchautor (Julia’s Eyes) zu Ruhm gekommene Spanier sein Spielfilmdebüt als Regisseur ablegte. Und was für eines es geworden ist: The Body – Die Leiche war ein klassisch erzählter, wendungsreicher Thriller, der einen bis zum Schluss miträtseln ließ, was denn nun wirklich in der Leichenhalle passiert ist. Für seinen zweiten Kinofilm suchte er sich zwar einen auf den ersten Blick freundlicheren Ort für sein Verbrechen aus – dieses Mal ist es das besagte Hotelzimmer, zu dem alle immer wieder gedanklich zurückkehren. Ansonsten sind die beiden Filme aber doch sehr ähnlich: beim Genre, beim Ablauf. Und glücklicherweise auch bei der Qualität.
Bekanntes Szenario und doch ein großes Rätsel
Paulos Liebe für klassische Mördergeschichten spiegelt sich schon im Szenario wieder. Eingeschneite Hotels waren schon immer ein dankbarer Ort für schaurige Morde. Wenn dieser dann auch noch in einem von innen abgeschlossenen Zimmer stattfindet, dann reiben sich Rätselknacker die Hände, die Vorfreude auf einen Whoddunit alter Agatha-Christie-Schule wächst. So ganz vergleichbar ist Der unsichtbare Gast dann aber doch nicht, allein schon der begrenzten Figurenzahl wegen. Mit der Zeit kommen zwar weitere Charaktere hinzu, etwa der von Gram gebeugte Familienvater Tomás (José Coronado). Die Frage nach dem „wer“ ist aber trotz allem für lange Zeit gar nichts so beherrschend wie die nach dem „wie“.
Der Regisseur und Drehbuchautor lässt sich dabei recht viel Zeit mit der Spurensuche, erzählt weitestgehend chronologisch die Vorgeschichte. Nach und nach erfahren wir durch Dialoge zwischen Adrián und Virgina, was sich vor der Todesnacht zugetragen hat. Oder auch was sich nicht zugetragen hat. Denn wenn uns der Beitrag von den Fantasy Filmfest White Nights 2017 eines zeigt, dann ist es, wie sehr wir einem Erzähler ausgeliefert sind. Wir haben nur dessen Worte für die Vergangenheit. Worte, denen man trauen möchte, es aber vielleicht nicht kann. Oder auch sollte. Denn wo nur eine Sicht der Dinge, da gibt es viel Raum für Verfälschungen und Auslassungen. Nur weil etwas vor unseren Augen passiert, heißt es nicht, dass es wirklich passiert.
Glaubwürdig ist das Verwirrspiel nicht, mehr Schein als Sein, wie bei vielen dieser Krimis hält das mühsam zusammengebaute Konstrukt einem prüfenden Blick nicht wirklich stand. Soll es aber auch nicht. Anstatt eine plausible Geschichte zu erzählen, geht es darum, die Zuschauer genüsslich aufs Glatteis zu führen. Ihm das Gefühl von Sicherheit zu geben, nur um dann doch woanders aufzutauchen, als man es vermutet hatte. Einige der Twists sind dabei gar nicht so schwer vorauszuahnen. Aber selbst die begabtesten Hobbydetektive werden wohl kaum alle Hinweise so zusammensetzen, wie sie es am Ende tun.
Moment, ist das wirklich passiert?
Tatsächlich werden diese später auf eine geradezu perfide Weise neu angeordnet. Manche Enthüllung kommt so aus dem Nichts, dass man einige Szenen nach den Credits ein zweites Mal anschauen möchte, um zu überprüfen, wann wo welche Lüge begonnen hat. Dass sich zwischendurch die Figuren etwas fragwürdig, mal auch reichlich dämlich verhalten, wird da zur Nebensache. Ebenso der eine oder andere Dialog, der nicht ganz den Gesetzen der logischen Gesprächsführung folgt. Denn auch wenn das Ergebnis des Mordes von Anbeginn an feststeht, das kammerspielartige und intensiv geführte Gesprächsduell zwischen Casas (Toro – Pfad der Vergeltung, My Big Night) und Wagener ist so packend, dass man vor lauter Details nicht weiß, wohin man schauen soll. Abgerundet wird der empfehlenswerte Thriller durch atmosphärische, oft schattenbestimmte Bilder und eine dramatische Filmmusik, die sich wie der Film auch an früheren Verwirrspielen orientiert. Hoffentlich lässt uns Paulo im Anschluss nicht wieder so lange warten, bis er sich wieder zu Wort meldet. Denn ähnlich vertrackte Rätsel dürfen wir heute nur viel zu selten sehen.
OT: „Contratiempo“
Land: Spanien
Jahr: 2016
Regie: Oriol Paulo
Drehbuch: Oriol Paulo
Musik: Fernando Velázquez
Kamera: Xavi Giménez
Besetzung: Mario Casas, Ana Wagener, Bárbara Lennie, José Coronado
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