Time of Eve
© 2009/2010 Yasuhiro YOSHIURA / DIRECTIONS, Inc.

(„Ivu no Jikan“ directed by Yasuhiro Yoshiura, 2010)

In einer nicht ganz so fernen Zukunft wurden Androiden technisch und gestalterisch so perfektioniert, dass sie von normalen Menschen kaum noch zu unterscheiden sind. Um Komplikationen zu vermeiden, ist jeder Android daher gezwungen, einen kleinen leuchtenden Ring über dem Kopf zu tragen, der ihn als Maschine kennzeichnet. Auch Rikuo sah in seinen mechanischen Helfern bislang nicht mehr als Werkzeuge, die einzig dazu da sind, ihm zu dienen. Als er bei seiner Androidin Sammy einen seltsamen Satz in ihrem Log findet, beschließt er zusammen mit seinem Freund Masaki, diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Zu ihrer großen Überraschung stoßen sie während der Ermittlungen auf ein kleines Untergrund-Café, in dem die Diskriminierung zwischen Mensch und Roboter aufgehoben ist. Alle Ringe sind abgeschaltet, auch darf der Unterschied nie thematisiert werden. Immer wieder schauen die beiden Freunde dort vorbei, lernen die Leute kennen und müssen dabei ihre eigenen Einstellungen zu der Technik hinterfragen.

Was bedeutet es, wenn in Zukunft die Grenzen zwischen Mensch und Maschine immer weiter verschwinden? Wie gehen wir mit Wesen um, die künstlichen Ursprungs sind, dabei aber eine Persönlichkeit haben? In Animes wurden diese Grundsatzfragen in den letzten Jahrzehnten des Öfteren gestellt. Am berühmtesten ist dabei natürlich der Cyberpunk-Klassiker Ghost in the Shell, aber auch Armitage III und Appleseed nahmen sich dieses Themas an. Time of Eve genießt zumindest hierzulande nicht annähernd diesen Bekanntheitsgrad, was auch an der fehlenden Deutschlandveröffentlichung liegt. Der Griff zum Import lohnt aber, auch wenn bzw. gerade weil Regisseur und Drehbuchautor Yasuhiro Yoshiura einen ganz anderen Zugang wählt als seine Kollegen.

Überdimensionierte Waffen? Große Verschwörungen? Kriegsähnliche Zustände? Actionszenen? Nein, davon gibt es nichts in Time of Eve. Den größten Rausch wird man hier noch durch den ständig ausgeschenkten Kaffee bekommen. Ansonsten verzichtet der Film auf eine nennenswerte Handlung, stattdessen wird in erster Linie geredet. Nach und nach erfahren Rikuo und Masaki mehr über die Stammgäste des Cafés, ihre Hintergrundgeschichten, ihre Schicksale. Würde einer behaupten, der Anime basiere auf einem Theaterstück, man würde diese Behauptung ohne Gegenfrage akzeptieren. Geradezu kammerspielartig mutet das Ganze an, wie dieselben Leute immer wieder miteinander plaudern, an Grenzen stoßen, diese manchmal aber auch überwinden. Wem Ex Machina und Konsorten schon zu actionarm waren, der wird hier nur wenig Freude finden.

Und doch: Langweilig ist Time of Eve keinesfalls. Und auch weniger kopflastig als so mancher Kollege. Anstatt die Problematik eines technologisierten Lebens zu theoretisieren, wählte Yoshiura, den hiesige Anime-Fans vor allem für Patema Inverted kennen, einen sehr viel persönlicheren Zugang. Die verschiedenen Herangehensweisen und Implikationen werden anhand von Figuren gezeigt, anstatt nur darüber zu reden. Und auch der Ton ist ein wenig anders, kann mal traurig sein, dann bittersüß, zwischendurch auch richtig komisch – ein Zwischenfall im Café erinnert an Katushiro Ôtomos Construction Cancellation Order in der Anthologie Manie Manie – Labyrinth-Geschichten.

Die Kehrseite der Medaille: Time of Eve ist weniger ein Film als eine Ansammlung von Kurzgeschichten und Stimmungen, ohne dass eine konkrete Richtung dabei verfolgt würde. Das liegt jedoch auch an der Entstehungsgeschichte: Ursprünglich war der Anime eine reine Webserie, die später um einige Rahmenszenen ergänzt, zu einem Film zusammengeschnitten wurden. Yoshiura holte dabei sicher einiges heraus, der unzusammenhängende Charakter bleibt jedoch. Wer aber auf einen roten Faden verzichten kann, der sollte sich den kleinen Geheimtipp mal anschauen. Des Inhalts wegen, aber auch wegen der nicht minder ungewöhnlichen Optik. Das kleine Studio Rikka macht hier passend zum Thema exzessiven Gebrauch von Computern. Während der Look grundsätzlich klassischen Animes entspricht, kommt es regelmäßig zu Effektspielereien. Und einer Kamera, die wohl eine Handkamera imitieren soll: Ständig schaut sie sich um, blickt von einer Figur zur nächsten, wackelt dabei so viel, dass einem schon mal etwas schwindlig werden kann. Ob es das nun in der Form gebraucht hätte, darüber lässt sich streiten. Aber irgendwie passt es dann doch zu einem Anime, der zwar viele Anspielungen enthält – von Isaac Asimov bis zu THX 1138 –, insgesamt dabei aber doch schön eigenständig bleibt.



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Sind wir nicht alle ein bisschen Roboter? „Time of Eve“ nimmt sich der beliebten Mensch-Maschine-Thematik an, geht aber einen eigenen, viel personenbezogeneren Weg. Einen roten Faden sollte man eher nicht erwarten, dafür sind die Kurzgeschichten im Café rührend bis witzig.
7
von 10