(„Berlin Syndrome“ directed by Cate Shortland, 2016)
Sie wollte die Welt sehen, sich selbst da draußen alleine mal durchschlagen, etwas erleben. Das tut Clare (Teresa Palmer) dann auch, mehr als ihr lieb ist. Ein aufregender kleiner Flirt, mehr als das erwartete die australische Backpackerin ja nicht, als sie sich auf den charmanten Englischlehrer Andi (Max Riemelt) einlässt. Nach der gemeinsamen Nacht muss sie jedoch feststellen, dass ihr neuer Bekannter die Tür hinter sich verschlossen hat und sie nicht mehr aus der Wohnung kann. Ein ärgerliches Versehen, das wird es wohl gewesen sein. Bis sie nach der nächsten Nacht feststellt, dass da doch mehr dahintersteckt: Andi hat gar nicht mehr vor, seine neue große Liebe gehenzulassen.
Viel Fantasie braucht es nicht, um bei dem Titel und dem Thema an das berühmte Stockholm-Syndrom zu denken. Angeregt von einer Geiselnahme 1973 in Schweden wird damit das Phänomen bezeichnet, dass Geiseln mit ihren Entführern sympathisieren, in ihnen plötzlich keine Gegner mehr sehen, sondern Vertraute. Das ist bei Berlin Syndrom genau umgekehrt: Hier kommt zuerst die emotionale Annäherung, danach die Geiselnahme. Zugleich hat Cate Shortland aber auch einen Film über die Stadt gedreht. Zum Teil zumindest. Ähnlich wie Victoria oder auch Tiger Girl neulich wird die deutsche Metropole als pulsierender, wilder Schmelztiegel porträtiert, in der gestern und heute, Internationales wie Lokales zusammenkommen.
Von groß zu klein, von wild zu bedrückt
Anstatt diese Eindrücke aber auszubauen und auf visuelle Eskalation zu setzen, geht Berlin Syndrom den umgekehrten Weg. Die Weite der Stadt weicht einer engen Wohnung, die Reizüberflutung des Sommers dem bedrückenden Licht des Winters, das Gefühl von Freiheit der Klaustrophobie. Als Idee ist das interessant, hat auch einige schöne Bilder zur Folge. Je weiter der Film voranschreitet, umso mehr verlieren wir das Gespür für eine Welt da draußen. Selbst die Realität scheint nach und nach zu verschwinden, sich mit Wahnvorstellungen und bizarren Phantasien zu vermischen. Von gewissen surrealen Momenten ganz abgesehen, wenn innerhalb des Käfigs eine normale, heile Welt nachgestellt wird.
Und doch wird bei dem Beitrag der Fantasy Filmfest Nights 2017 nie so ganz klar, was er eigentlich will. Man mag es gut finden, wie hier vieles nicht ausgesprochen wird, der Zuschauer anhand von Andeutungen den Rest der Geschichte (re-)konstruieren soll. Oder eben auch ärgerlich. Die Hintergründe von Andis Störung werden beispielsweise zwischendurch kurz angesprochen, aber nie so recht erklärt. Auch das Verhältnis zu seinem Vater Erich (Matthias Habich) erschließt sich nicht wirklich. Immer wieder merkt man, dass der Film mehr sein wollte als nur ein herkömmlicher Entführungsthriller, etwas sagen wollte über die Stadt und ihre Bewohner, es dann aber doch nicht tut.
Nichts Halbes und nichts Ganzes
Das Problem hierbei ist, dass das am Ende nichts Halbes und nichts Ganzes ist. Nicht nur, dass die zaghaften Ansätze tieferer Aussagen keine nennenswerten Früchte tragen wollen, auch als Thriller steht sich der Film so im Weg. Für eine Laufzeit von knapp zwei Stunden hat Berlin Syndrom einfach zu wenig zu sagen, zu wenig zu zeigen. Was gleich in mehrfacher Hinsicht spannend beginnt, wird im Laufe der Zeit ziemlich zäh. Hinzu kommt, dass sich mal wieder die Figuren nicht entscheiden können, welche von ihnen sich am dümmsten und realitätsfremdesten verhalten soll. Seine Momente hat die australisch-deutsche Co-Produktion schon. Mit Teresa Palmer (Hacksaw Ridge – Die Entscheidung, Lights Out) und dem gegen sein Image als Sonnyboy besetzten Max Riemelt (Heiter bis wolkig, Du hast es versprochen) auch zwei mehr als vorzeigbare Schauspieler. Das erhoffte Highlight ist der Streifen trotz diverser interessanter Elemente aber nicht.
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