(„Ethel & Ernest“ directed by Roger Mainwood, 2016)
Unterschiedlicher könnte sie eigentlich kaum sein, als sie sich 1928 über den Weg laufen: Ethel arbeitet als Dienstmädchen bei einer noblen Familie, ist zurückhaltend, auf gute Manieren bedacht und auch sonst eher konservativ. Milchmann Ernest hingegen ist fast immer gut gelaunt, lebt sorglos in den Tag hinein und ist ein überzeugter Anhänger des Sozialismus. Und doch verlieben sie sich schnell ineinander, heiraten und verbringen bis zu ihrem Tod über 40 Jahre später ihr komplettes Leben miteinander. Teilen die schönen Momente wie die Geburt ihres Sohnes Raymond. Aber auch die Schattenseiten wie den Zweiten Weltkrieg.
Auch wenn Raymond Briggs eigentlich als Autor und Illustrator bekannt ist, bei Nennung seines Namens kommen Animationsfans gleichermaßen Tränen in die Augen. Tränen des Glücks. Tränen der Trauer. Gleich mehrere Werke des Engländers wurden auch in Zeichentrickform unsterblich gemacht, zwei davon sind besonders bekannt. Da wäre zum einen seine wortlose Weihnachtsgeschichte Der Schneemann, die auch 35 Jahre später noch die Herzen kleiner wie großer Zuschauer erwärmt. Und natürlich Wenn der Wind weht, jenes bittere Drama über ein älteres Ehepaar, das nach einer Atombombe langsam dahinsiecht, ohne zu merken, wie ihm geschieht.
Ein Paar im Wandel der Zeit
Hin und wieder erinnert auch Ethel & Ernest daran, wenn sich die beiden Titelfiguren in einer berührenden Naivität mit der Welt da draußen auseinandersetzen müssen. Vor allem die schwierige und verwirrende Zeit während des Zweiten Weltkriegs, die so wenig mit dem Alltag des Paars zu vereinen ist, zeigt Parallelen zwischen beiden Werken auf. Der auf einer 1998 erschienenen Graphic Novel basierende Film ist dabei aber nicht annähernd so verheerend für das eigene Gemüt. Vielmehr zeigen Regisseur Roger Mainwood und eben Briggs die Höhen und Tiefen einer Ehe im 20. Jahrhundert auf. Alles, was England während dieser 40 Jahre geprägt hat – die Depression, Kriege, politischer und gesellschaftlicher Wandel –, hat natürlich auch die Briggs geprägt. Das Drama ist also in vielen Momenten ein Zeitporträt.
In erster Line ist es aber natürlich das Porträt zweier Menschen. Mit viel Zuneigung, Bewunderung und doch auch Humor hat Raymond hier seinen beiden Eltern ein Denkmal gesetzt. Wenn sich die zwei darüber freuen, ihr Haus dekorieren zu können und sich eigene Sofas zu kaufen, dann ist das von einer wundervollen Alltäglichkeit, die auch Jahrzehnte später von den meisten nachzuempfinden ist. Das funktioniert auch der Synchronsprecher wegen so fabelhaft: Brenda Blethyn und Jim Broadbent (The Lady in the Van, Le Weekend) machen die beiden Figuren zu einer prototypischen Familie der englischen Arbeiterklasse, die kleinen Leute von nebenan. Die anderen Figuren kommen dabei zwangsweise etwas kurz – selbst Raymond, der hier als Erwachsener von Luke Treadaway (Bob, der Streuner, Fortitude) gesprochen wird, hält sich ziemlich im Hintergrund.
Zu viele Themen, zu wenig Zeit
Das ist auch eine kleine Schwäche des Films: 90 Minuten sind dann doch nicht genug, um 40 Jahren wirklich gerecht zu werden. Und so besteht die Geschichte aus Dutzenden kleiner wie großer Momente – Hochzeit, Geburt, Krieg bis zum Tod –, die absolut gleichberechtigt erzählt werden. Viele Punkte, die angesprochen werden, sind sofort wieder vorbei, obwohl man als Zuschauer gern mehr darüber erfahren hätte. Dass beispielsweise Raymonds Frau an Schizophrenie litt, wird an einer Stelle erzählt, anschließend jedoch sofort wieder fallengelassen. Gerade die traurigen Momente treffen einen dadurch umso härter, da das Publikum zu keiner Zeit darauf vorbereitet wird.
Ansonsten gibt es an diesem impressionistisch angelegten Animationsfilm nicht viel auszusetzen – inhaltlich wie visuell. Dann und wann ist der Einsatz von Computern doch etwas stärker sichtbar, es gibt zudem ein paar kleinere Stilbrüche. Im Großen und Ganzen sieht die Geschichte des Ehepaares aber sehr schön aus, fängt sowohl den Comic-Charakter der Vorlage wie auch das englische Ambiente wunderbar ein. Leider hat sich bislang noch kein deutscher Verleih gefunden, der Ethel & Ernest ins Programm aufnehmen mag. Dafür gibt es aber neben dem UK-Import auch auf dem Internationalen Trickfilm Festival Anfang Mai 2017 in Stuttgart die Gelegenheit, das warmherzige Porträt zu sehen. Und die sollte sich keiner entgehen lassen, der etwas für erwachsene Animationsfilme oder allgemein bewegende Alltagsgeschichten übrig hat.
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