(„The Girl on the Train“ directed by Tate Taylor, 2016)
Bei Rachel Watson (Emily Blunt) geht schon seit Längerem alles schief, was schiefgehen kann. Eine Fehlgeburt hat sie hinter sich, ihr untreuer Ehemann Tom (Justin Theroux) hat sie verlassen, auch ihre Stelle hat sie aufgrund ihrer Alkoholsucht verloren. Nur eines gibt ihr Halt: die tägliche Zugfahrt nach Manhattan. Da kann sie abschalten, ein bisschen träumen – beispielsweise von dem Pärchen Megan (Haley Bennett) und Scott (Luke Evans), dessen Haus neben der Bahnlinie liegt. Und nahe ihres alten Hauses, wo ihr Ex nun mit seiner neuen Frau und früheren Geliebten Anna (Rebecca Ferguson) sowie dem gemeinsamen Kleinkind lebt. Diese Routine wird eines Tages jedoch jäh unterbrochen, als sie sieht, wie die fremde Frau einen anderen Mann küsst. In Rachel reißen dadurch alte Wunden auf. Sie findet aber auch neue, als sie am nächsten Morgen erwacht und sich an nichts mehr erinnern kann. Was ist in der Nacht nur geschehen? Woher kam das viele Blut? Und was ist mit der Frau geschehen, die seither spurlos verschwunden ist?
Vergleiche können eine große Hilfe sein bei neuen Werken. Zum einen geben sie dem potenziellen Kunden die Möglichkeit, es vorab in eine Schublade zu legen. Zum anderen können die Künstler so ein klein wenig vom Ruhm des Vorbilds profitieren. Siehe „The Girl on the Train“. Der Debütroman der englischen Schriftstellerin Paula Hawkins wurde aufgrund ähnlicher Themen und unzuverlässiger Erzähler immer wieder mit Gone Girl – Das perfekte Opfer verglichen, was die Verkaufszahlen kräftig anhob. Und auch 16 Uhr 50 ab Paddington von Agatha Christie liegt als Referenz nahe, wo ebenfalls ein zufälliger Blick aus einem Zug den Anfang einer Mörderjagd markierte. Der Unterschied ist jedoch, dass im Krimiklassiker die Protagonistin eine wirkliche Heldin war. Und das wird man von Rachel kaum behaupten wollen. Oder auch von irgendjemand anderen.
Kopfüber in die menschlichen Abgründe
Tatsächlich ist es bemerkenswert, wie durchweg kaputt und unsympathisch die Figuren in der Romanverfilmung geworden sind. Und das obwohl die Drehbuchautorin Erin Cressida Wilson (Chloe) die Vorlage ein bisschen adaptierte, um Rachel für die Zuschauer nahbarer zu machen. Zumindest gelang es ihr, Regisseur Tate Taylor, vor allem aber Hauptdarstellerin Emily Blunt, Rachel als bemitleidenswertes Wrack zu zeigen, das nichts und niemand in Griff hat. Das vielleicht auch schon längst aufgegeben hat. Wie sie tagein, tagaus an ihrem alten Haus vorbeifährt und kleine Momente des Glücks von anderen klaut, das hat tatsächlich etwas Schmerzhaft-Tragisches. Umso mehr, da wir Blunt normalerweise in Powerrollen wie in Edge of Tomorrow und Sicario gewohnt sind. Und nicht als ein klägliches Nichts.
Während Rachel so eindrucksvoll durch die Gegend torkelt, immer auf der Suche nach Halt und ihren Erinnerungen, bleiben die anderen recht nichtssagend. Megan und Anna beispielsweise sind nicht nur aufgrund ihrer Frisuren und ihrer Affären austauschbar, wir erfahren auch nichts über ihre Persönlichkeit. Bei den Männern sieht es nicht viel besser aus. Justin Theroux (Inland Empire) als untreuer Ehemann, Luke Evans als Gehörnter (Die Schöne und das Biest), Édgar Ramírez (Joy – Alles außer gewöhnlich) als undurchsichtiger Therapeut – da wird eine ziemliche Drohkulisse aufgebaut, ohne den Charakteren über ihre Abscheulichkeit hinaus tatsächlich etwas mitzugeben. Man begnügte sich mit den Abgründen, legte nichts Nennenswertes in sie hinein.
Nicht ganz überraschend, nicht ganz logisch, aber doch solide
Aber als Charakterdrama war Girl on the Train ohnehin nicht gedacht, sondern als Krimi-Thriller. Und zumindest in der Hinsicht macht der Film doch einiges richtig. So richtig überraschend ist die Auflösung des Falles nicht. Wer einigermaßen gern Krimis schaut oder liest, wird recht schnell ahnen, was am Ende dahintersteckt. Durch die vertrackte Erzählweise, die munter zwischen Zeitebenen und Perspektiven hin und her springt, wird man dennoch erst einmal gut beschäftigt sein, die wirren, nicht immer ganz logischen Handlungsstränge wieder zu ordnen. Hinzu kommt, dass wir hier ohnehin niemanden so richtig glauben können. Fast alle Figuren werden als Lügner eingeführt, Rachel zudem als ständig Besoffene mit Erinnerungslücken. Dadurch können wir uns nie ganz sicher sein, was von dem Gezeigten überhaupt wahr ist. Auch das ist jetzt keine absolute kreative Meisterleistung. Nichts, was man nicht aus dem Genre bestens kennen sollte. Aber es reicht doch für einen soliden Thriller, der mit viel ominöser Musik und dunklen Bildern die miese Stimmung noch weiter verschmutzt.
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