(„Sweet, Sweet Lonely Girl“ directed by A.D. Calvo, 2016)
Schwierig ist die Aufgabe sicher nicht: Adele (Erin Wilhelmi) soll in Zukunft bei ihrer Tante Dora (Susan Kellermann) leben und sich um sie kümmern. Die Jugendliche könnte sich aber spaßigere Aufgaben vorstellen. Nicht nur dass die alte Frau in einer langweiligen Kleinstadt lebt, wo wirklich gar nichts zu tun ist, sie piesackt Adele ständig mit lästigen Vorschriften. Und das auch noch mithilfe von Zetteln, denn Dora vermeidet jeden persönlichen Kontakt, kommuniziert nur durch die verschlossene Tür. Doch zum Glück ist da auch noch Beth (Quinn Shephard). Die ist deutlich aufgeschlossener und lebendiger als die sonstigen Bewohner des verschlafenen Ortes und wird so schnell zu einer guten Freundin von Adele. Und sogar zu noch ein bisschen mehr.
Ein etwas abgelegenes Haus, welches Inhalt finsterer Gerüchte ist. Eine alte Frau, die ihr Zimmer nie verlässt. Tragische Vorgeschichten, die nie wirklich enthüllt werden. Doch, das ist das Material, aus dem Horrorfilme geschnitzt werden. Wenn der Film dann auch noch auf dem berühmt-berüchtigen Genreschaulaufen des Fantasy Filmfests seine Deutschlandpremiere feiert – genauer während der Fantasy Filmfest Nights 2017 –, dann sollte eigentlich alles klar sein. Sollte. Und doch hatte Regisseur und Drehbuchautor A.D. Calvo, der sich vorher schon diverse Male in dunklen cineastischen Gefilden aufgehalten hat, hier offensichtlich etwas anderes im Kopf.
Verloren in dieser Welt
Sweet, Sweet Lonely Girl heißt sein nunmehr sechster Spielfilm. Und der Titel ist Programm: Adele wirkt wie das nette Mädchen von nebenan, das aber irgendwie nirgends Anschluss findet. Sie habe das Gefühl, dass die Leute sie zur Hälfte mögen und zur Hälfte hassen, sagt sie an einer Stelle. Das ist zum einen Zeichen ihrer nicht immer in der Realität verhafteten Wahrnehmung, die später noch eine größere Rolle spielt. Sicher aber auch ein Zeichen der damaligen Zeit: Der Film spielt in den 80ern, lange vor dem Aufkommen alternativer Kommunikationsmöglichkeiten. Wenn sie durch den Ort streift, immer die Kopfhörer ihres Walkmans auf den Ohren, dann wirkt sie so, als wäre sie nicht wirklich Teil von dieser Welt.
Über alle lange Zeit geht es dann auch genau darüber: Wir sehen, wie das freundliche, einsame Mädchen dank Beth endlich wieder Freude verspürt. Ihren Platz in der Welt findet. Es ist klassisches Coming-of-Age-Material, mit dem Calvo da hantiert. Während sich für Adele die Welt allmählich aufhellt, bleibt jedoch auch dieses ominöse, unheimliche Gefühl. In Sweet, Sweet Lonely Girl scheint es mehr Schatten als Licht zu geben, mehr Friedhöfe als Menschen, mehr Geheimnisse als Dialoge. Zumal das Aufblühen von Adele auch nicht zu hundert Prozent ein wünschenswertes ist. Je mehr Zeit sie mit ihrer neuen besten Freundin verbringt, umso mehr zeigen sich auf ihrer unschuldigen Seele dunkle Flecken. Das nimmt jedoch nie die Ausmaße des thematisch ähnlich gelagerten Tiger Girl an, keiner wird hier übel zusammengeschlagen oder gedemütigt, keiner muss um sein Leben fürchten.
Und zum Schluss dann doch der Horror …
Außer Adele selbst natürlich. Denn wenn ein Film auf dem Fantasy Filmfest gezeigt wird bzw. in den USA ab dem 4. Mai auf der Horror-Streamingplattform Shudder, dann muss da noch mehr dran sein. Das wird Genreanhänger freuen, ist gleichzeitig aber auch ein bisschen schade. Sweet, Sweet Lonely Girl, das zuvor lange nur über Atmosphäre gearbeitet hat, mit düsteren Bildern und einem wunderbar unangenehmen Soundtrack, will auf den letzten Metern doch noch mehr sein. Das passt sicher zu dem zuvor aufgebauten Charakter der Jugendlichen und der angesprochenen verzerrten Wahrnehmung. Die dann noch ein bisschen mehr zu wickeln und zu winden, bis man gar nicht mehr weiß, wo die Realität aufhört, ist irgendwo naheliegend. Nur nimmt sich Calvo dafür sehr wenig Zeit. Der insgesamt nicht einmal 80 Minuten lange Streifen genießt zu lange sein gemächliches Tempo, um das späte Hauruckverfahren so einfach wegzustecken. Dennoch: Stimmungsvoll ist diese Mischung aus LGBT-getünchtem Coming-of-Age-Drama und Mysterythriller, gut gespielt ebenso. Wer diese Art Filme mag, sollte daher den Auftritt beim Festival nicht verpassen, da er als einziger der zehn angekündigten Werke keinen regulären deutschen Verleiher hat.
(Anzeige)