A Silent Voice

(„Koe no Katachi“ directed by Naoko Yamada, 2016)

A Silent Voice
„A Silent Voice“ läuft im Rahmen des japanischen Filmfestivals Nippon Connection (23. bis 28. Mai 2017)

Für Shoya ist ein Tag an der Schule wie jeder andere. Ohne große Ambitionen, ohne großen Spaß am Lernen. Bis sie auftaucht: Shoko. Denn die ist anders als alle anderen. Sie ist trotz ihrer Hörhilfen so gut wie taub, wenn sie zu sprechen anfängt, kommt nur unverständliches Gebrabbel heraus. Wäre da nicht ihr Notizbuch, das sie ständig mit sich herumträgt, sie wäre wohl zu keiner Form der Kommunikation imstande. Für den gelangweilten Shoya ist das Mädchen ein gefundenes Fressen: Unterstützt von den anderen Mitschülern macht er ihr das Leben so schwer wie nur irgendwie möglich. Jahre später, Shoko hat inzwischen längst die Schule gewechselt, ist aus dem einstigen Anführer Shoya nun selbst ein Außenseiter geworden, dessen vergangene Taten schwer auf ihm lasten. Aber wird er Jahre später tatsächlich noch Freundschaft mit seinem ehemaligen Opfer schließen können?

Verkehrte Welt: Während Anime-Serien in den letzten Jahren auch durch die zahlreichen Streamingdienste selbst von großen Fans kaum noch bewältigen sind, sieht es beim Filmpendant äußerst mager aus. Für die große Leinwand wird kaum noch produziert. Und wenn doch, dann basiert das oft auf großen Franchises. Umso schöner ist es, dass letztes Jahr gleich drei Kinofilme in Japan herauskamen, die selbst ohne Langzeitmangas weltweit von sich reden machten. Your Name wurde zu einem der erfolgreichsten Animes aller Zeiten, In This Corner of the World zeigte uns den Zweiten Weltkrieg von einer ganz anderen Seite. Dritter im Bunde ist A Silent Voice, der auf dem gleichnamigen Manga von Yoshitoki Ōima basiert und daheim, aber auch in Südkorea ein größerer Erfolg wurde.

Gewalt ohne echte Grundlage
Ein Wunder ist das nicht, spricht der Film doch ein Thema an, das beide Länder immer wieder umtreibt, ohne dass eine echte Lösung dafür gefunden wurde: Mobbing an der Schule. Ganz so unbarmherzig brutal wie beim südkoreanischen The King of Pigs geht es hier zwar nicht zu, bei einigen Szenen darf man aber schon einmal ein bisschen schlucken – umso mehr, da die seelische Gewalt an einem gehörlosen Mädchen ausgeübt wird. Und doch behandelt A Silent Voice nur zum Teil, was (junge) Menschen sich alles gegenseitig antun können. So richtig interessiert sich der Film auch gar nicht dafür, weshalb es das Phänomen überhaupt gibt: Das Mobbing ist nicht das Ergebnis, es ist die Grundlage.

Sehr viel stärker beleuchtet die Manga-Adaption die Spätfolgen einer solchen Erfahrung. Auch an der Stelle hält sich A Silent Voice mit Erklärungen zurück. Warum Shoya mittlerweile ein Außenseiter ist, der keine Perspektive mehr im Leben sieht, wird ebenso verschwiegen wie seine Gründe für den Sinneswandel auf Shoko bezogen. Diese Leerstellen sind auch deshalb auffällig, weil der Film über zwei Stunden lang ist. Zeit genug hätte es also gegeben. Genauso wäre es schön gewesen, aus Shoko noch etwas mehr Persönlichkeit herauszuholen. Ihre konsequente Freundlichkeit und Unterwürfigkeit sind als einzige Charaktereigenschaft dann doch eher unbefriedigend. Aber die Zeit sollte dann doch anders genutzt werden: für die Gegenwart und die Aufarbeitung der Vergangenheit.

Bekannt und trotzdem spannend
Das macht den Anime im Grunde zu einem typischen Drama, das von Schuld und Vergebung handelt. Von den Schwierigkeiten, loszulassen und noch einmal von vorne anzufangen. Spannend wird A Silent Voice jedoch durch die Personenkonstellationen und den Zeitsprung. Indem wir die Täter und Opfer von einst kennenlernen und wir sehen, wie sich wer wie im Laufe der Jahre verändert hat – aus Freunden Feinde wurden oder umgekehrt –, bekommt die Geschichte eine Menge Dynamik. Menschen von einst sind verschwunden, andere dafür hinzugekommen. Ein paar von denen hätten noch mehr Tiefgang vertragen, manche neue Freundschaft ist irgendwie da, ohne dass viel dafür getan würde. Es bleiben aber auch trotz der gelegentlichen Oberflächlichkeit genug Momente übrig, die mal bewegend, dann wieder komisch, manchmal auch beides sind.

Sehenswert ist der Film für diese Einzelmomente, aber auch für die durchgängig hochkarätige Optik. Das Animationsstudio Kyoto Animation (Love, Chunibyo & Other Delusions!, Free!) hat in den letzten Jahren ja schon mehrfach bewiesen, dass es sehr schöne Hintergründe zaubern kann – wenn es denn mal will. Und dieses Mal wollten sie es wohl unbedingt, geradezu fotorealistisch sind die Aufnahmen aus der Schule wie aus dem Alltag der Jugendlichen. Sehr schön ist auch der Kniff, um Shoyas Isolation von den anderen Menschen zu veranschaulichen. Gründe, sich den Anime anzuschauen, gibt es also einige. Und zum Glück auch die Gelegenheit: Im Laufe des Jahres soll der Film dankenswerterweise in die deutschen Kinos kommen. Wer nicht so lange warten mag und nahe bei Frankfurt a. M. wohnt, sollte sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, das japanische Filmfest Nippon Connection zu besuchen, wo das Drama seine Deutschlandpremiere feiert.



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Ein gehörloses Mädchen wird in der Schule so lange schikaniert, bis sie diese wechselt, einer der Täter versucht sich Jahre später der Wiedergutmachung – so lautet die im Grunde bekannte Situation der Schuld-und-Sühne-Geschichte. Die spart sich zwar diverse Erklärungen, ist dafür aber aufgrund der spannenden und dynamischen Personenkonstellationen sehenswert. Hinzu kommt eine fast fotorealistische Optik.
7
von 10