Die rote Schildkröte

(„La Tortue Rouge“ directed by Michael Dudok de Wit, 2016)

Die rote Schildkröte
„Die rote Schildkröte“ erscheint am 28. Juli 2017 auf DVD und Blu-ray

War das nun Glück oder Unglück? Auf der einen Seite kann der Mann den Göttern dafür danken, dass er es nach dem Schiffsunglück überhaupt auf die Insel geschafft hat. Dort findet er genug Nahrung, um sich zu versorgen, Gefahren gibt es keine. Aber eben auch keine anderen Menschen. Und so sehnt er sich zurück in die Zivilisation, zurück zur Gesellschaft. Aber so oft er es auch versucht, sich ein Floß zu bauen und über das Meer zu schippern, immer kommt im letzten Moment die rote Schildkröte und zerstört seinen Traum. Als der Mann eines Tages sieht, wie das Reptil an Land kriecht, sieht er seine Chance gekommen, es zu töten und doch noch von der Insel zu kommen – ohne zu ahnen, was im Anschluss alles passieren wird.

Was wurde Die rote Schildkröte im Vorfeld nicht gefeiert: endlich ein neuer Film von Studio Ghibli! Verständlich, denn wenn das totgesagte Animationsstudio, das uns solche Klassiker wie Mein Nachbar Totoro, Die letzten Glühwürmchen oder Chihiros Reise ins Zauberland geschenkt hat, mal wieder ein Lebenszeichen sendet, dann stehen Animationsfans auf der ganzen Welt Spalier. Dass der Film aber nur sehr bedingt von den Japanern stammte, das wurde in der Euphorie gern übersehen. Vielmehr ist es der oscarprämierte Belgier Michael Dudok de Wit, der hier in jahrelanger Kleinstarbeit sein Spielfilmdebüt abliefert. Von Ghibli stammte in erster Linie das Geld, zudem übte Mitbegründer Isao Takahata eine beratende Funktion aus.

Ein Film wie aus einem Comic-Buch
Dass es sich bei Die rote Schildkröte nicht um einen „echten“ Studio Ghibli handelt, das sieht man ihm auch relativ schnell an. Selbst wenn die Filme der Animegiganten innerhalb der japanischen Zeichentrickkunst eine Sonderrolle einnahmen, die Herkunft der Filme war doch deutlich zu spüren. Hier hingegen gibt es kaum fernöstliche Einflüsse, stattdessen ist die Geschichte um den Schiffbrüchigen und das rätselhafte Reptil in seiner visuellen Umsetzung durch und durch europäisch. Gerade bei den handgezeichneten, bewegungslosen Hintergründen meint man, einen frankobelgischen Comic vor sich zu haben. Die Figuren sind zudem sehr realistisch, trotz des Computereinsatzes hat der Film nichts mit dem zu tun, was aus den USA immer wieder angeschwemmt wird.

Das liegt natürlich aber auch an der unterschiedlichen Zielgruppe. Hier sind es mal keine Kinder die angesprochen werden sollen. Die werden sich zunächst vielleicht an der exotischen Kulisse erfreuen und an den vielen Tieren, die hier herumkriechen oder schwimmen. Nur geht das nicht mit Humor einher, Slapstickelemente fehlen völlig. Gleiches gilt für Sprache. Hin und wieder darf der Mann noch wortlos um Hilfe rufen, ansonsten bleibt er den ganzen Film über stumm. Das macht ihn recht unnahbar, kein typischer Kinderheld. Im Laufe der 80 Minuten erfahren wir so gut wie nichts über ihnen. Nichts über seine Herkunft. Nichts über seinen Charakter. Nicht einmal sein Name wird genannt.

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte
Diese starke Reduktion muss jedoch kein Nachteil sein: Da wo das Definierte fehlt, öffnen sich Räume für Interpretationen. Da wäre zum einen natürlich die ökologische Komponente, welche Die rote Schildkröte durchaus in die Nähe von Ghibli-Werken wie Prinzessin Mononoke oder Ponyo – Das große Abenteuer am Meer kriechen lässt. Aber auch existenzielle bis spirituelle Blickwinkel drängen sich auf. Der recht sparsame Umgang mit der Handlung, auch er trägt zu der Distanziertheit des Films bei. Damit ist er den Werken von Takahata insgesamt näher als den eher mainstreamtauglichen Werken von Hayao Miyazaki, manch einer wird sich vielleicht sogar zwischenzeitlich langweilen. Wer sich aber darauf einlassen kann auf diese ruhig-entrückte Welt, die in einem ziemlichen Kontrast zu der zuweilen theatralischen Musik steht, der entdeckt hier einen wunderschönen Animationsfilm, der zwar nur teilweise mit den japanischen Übervätern zu vergleichen ist, insgesamt aber ein mehr als würdiger Zuwachs im ruhmreichen Gesamtwerk des Studios darstellt.



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Keine Sprache, kein Humor und nur wenig Handlung, „Die rote Schildkröte“ ist deutlich reduzierter als die großen Vorbilder von Studio Ghibli. Und auch bei der Mischung aus handgezeichneten Hintergründen und computergenerierten Objekten geht man hier eigene Wege. Insgesamt ist das fantasievolle Abenteuer um einen Mann, der auf einer einsamen Insel landet, aber sehr sehenswert und lässt viel Raum für Interpretationen.
8
von 10