(„You’ll Never Walk Alone“ directed by André Schäfer; 2017)
Was haben Lerchen und 22 Männer, die einem Ball hinterherrennen, gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Oder auch auf den zweiten. Und doch eine ganze Menge, wie wir allwöchentlich erfahren dürfen, wenn irgendwo in einem Stadion dieser Welt „You’ll Never Walk Alone“ angestimmt wird. Aber wie genau es dazu kam, dass Tausende Menschen von Hoffnung, Unwettern und eben auch Lerchen singen, das dürften selbst die, die jedes Wort davon auswendig kennen, nicht unbedingt wissen. Grund genug für André Schäfer, in seiner gleichnamigen Dokumentation auf Spurensuche zu gehen.
Diese führt ihn in den rund anderthalb Stunden, die sein Werk dauert, an erstaunlich viele und sehr unterschiedliche Orte. Der erste davon liegt jedoch nicht in Dortmund, auch wenn die Anhänger des BVB das gern so sähen. Auch nicht in Liverpool, dessen Fußballverein am stärksten mit dem Lied in Verbindung gebracht wird. Nicht einmal in den USA, wo das Lied komponiert wurde. Nein, der Anfangsort lag in Ungarn, im frühen 20. Jahrhundert, wo der ungarische Schriftsteller Ferenc Molnár sein Stück „Liliom“ auf die Bühne brachte.
Geradlinig und gleichzeitig auch nicht
Die anschließende Historie ist an und für sich geradlinig. Aus dem 1909 uraufgeführten Werk wurde 1945 das Musical „Carousel“ mit von Richard Rodgers (Musik) und Oscar Hammerstein II (Text) geschriebenen Liedern. Daraus machte der Regisseur Henry King 1956 den gleichnamigen Film. Diesen wiederum sah später Gerry Marsden und nahm mit seiner Band Gerry and the Pacemakers das Lied neu auf. Das wurde zu einem riesigen Hit, zuerst im normalen Chartsumfeld, später eben auch in dem des Fußballs.
All diese Stationen klappert die Dokumentation pflichtbewusst und größtenteils chronologisch ab. Informativ ist das, keine Frage, zumindest für die, welche noch nichts zu den Hintergrundgeschichten des Liedes wussten. Aber letztendlich auch nicht mehr, als es ein kurzer Blick auf Wikipedia getan hätte. Dass You’ll Never Walk Alone so sehenswert ist, hängt dann auch weniger mit dem „was“ der Entwicklung zusammen, sondern vielmehr mit dem „wie“ und „wer“. Bemerkenswert ist nicht nur, mit wie vielen Leuten Schäfer bzw. sein enthusiastischer und allgegenwärtiger Laufbursche Joachim Król gesprochen haben, sondern auch aus welch unterschiedlichen Bereichen die Interviewpartner stammen. Da kommt ein Enkel von Molnár zu Wort, ein US-Tänzer aus „Carousel“, Gerry Marsden, Stadionsprecher, Fußballfans – also jeder, der irgendwie mit der Geschichte zusammenhängt.
Zufällig, persönlich, sympathisch
Dieser persönliche Ansatz erlaubt Schäfer Einblicke, die weit über das hinausgehen, was einem ein Wikipedia-Eintrag verraten würde. Da werden Anekdoten geteilt, in Erinnerungen geschwelgt, verblüffende Querverbindungen hergestellt. Dass Marsden beispielsweise Carousel gar nicht sehen wollte, sondern eigentlich nur einen Film von Laurel & Hardy und damit zufällig auf das Lied stieß, das hört man doch gern immer mal wieder. Etwas weniger sympathisch ist der ungenierte Pathos, mit dem später „You’ll Never Walk Alone“ zu einem Heilewelt-Gebet glorifiziert wird – an diesen Stellen sollte man schon besser eine hohe Kitschtoleranzgrenze haben.
Kritisch ist zudem, dass der Hang zum Abschweifen, der viele interessante Punkte hervorbringt, manchmal ein bisschen sehr weit ab vom Hauptthema landet. Beispielsweise wird später ausführlich von einer Fehde zwischen Liverpool und dem englischen Boulevardblatt „Sun“ berichtet. Was das mit dem Lied zu tun hat? Wird nicht verraten. Aber auch das passt ja, schließlich wurde auch die Hymne vom Fußball vereinnahmt, ohne dass es einen inhaltlichen Zusammenhang geben würde. Und ausgerechnet hier bleibt der Film, der zu so vielen Punkten so viel Interessantes zu sagen hat, auf einmal stumm. Wenn Król zum Abschluss noch einmal auf die Willkürlichkeit hinweist, lautet die Antwort nur: „Spielt das eine Rolle?“ Vielleicht nicht. Und so werden wohl auch in Zukunft die Stadionbesucher Lerchen besingen, während sie auf den Rasen starren, von Gemeinschaft und Teamgeist träumen, von Hoffnung uns Licht. Und natürlich davon, dass diesmal die eigene Mannschaft am Ende siegreich ist.
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