(OT: „Ava“, Regie: Léa Mysius, 2017)
Dieser Urlaub hätte nun echt anders laufen sollen. Ein bisschen am Strand liegen, im Meer schwimmen gehen, das Übliche eben. Und vielleicht wäre es auch so gekommen, wenn die 13-jährige Ava (Noée Abita) nicht erfahren hätte, dass sie unweigerlich erblinden wird. Eher früher als später. Während ihre Mutter Maud (Laure Calamy) abwechselnd in Tränen ausbricht und sich in Durchhalteparolen übt, ist Ava viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Umfeld (neu) kennenzulernen. Vor allem der pechschwarze Hund, der durch die Gegend streift, hat es ihr angetan. Aber auch dessen Besitzer, der 18-jährige Juan (Juan Cano), übt eine ziemliche Faszination auf sie aus.
Etwas unter Zeitdruck erledigen zu müssen, das ist meistens eine eher unangenehme Angelegenheit. Es kann aber auch erfreuliche Ergebnisse mit sich bringen. Das gilt für Ava gleich doppelt. Da wäre zum einen die junge Titelfigur, die angesichts ihres schwindenden Augenlichts in kürzester Zeit sich selbst, ihren Platz und ihren Körper finden muss. So lange es eben noch geht. Da wäre aber auch Léa Mysius, die mit dem Film ihren Abschluss an der Hochschule vorlegt und nur wenige Tage Zeit hatte, das komplette Drehbuch zu schreiben.
Spontan, ziellos, eigensinnig
Dass hier nicht unbedingt lange am Inhalt gefeilt wurde, das merkt man dem Film auch durchaus an – im Positiven wie im Negativen. So manch einer im Publikum wird etwas irritiert sein, wie ziellos Ava durch die Gegend streift, Themen und Figuren einführt, um sie gleich wieder fallenzulassen. Einen roten Faden gibt es am Atlantikstrand nicht. Eine erkennbare Richtung ebenso wenig. Das ist im Grundsatz natürlich nichts Ungewöhnliches für ein Coming-of-Age-Drama. Denn dort geht es ja ums Suchen, ums Ausprobieren, ums Scheitern und Weitermachen.
Hier ist das Ganze aber noch ein gutes Stück verstärkter, da einige der besagten Elemente so auffällig waren. Die surrealen Einschübe beispielsweise, die zusammen mit der unheimlichen Musik immer wieder für alptraumhafte Momente sorgen. Auch der Hund – die Idee entstammte einem Traum von Mysius –, der anfangs den verdunkelnden Alltag begleitet, ihn sogar dominiert, ist irgendwann ziemlich unwichtig. Ja selbst die zunehmende Erblindung spielt ab einem gewissen Zeitpunkt kaum eine Rolle mehr. So als hätten Filmemacherin und Ava selbst diese komplett vergessen.
Keine Angst vor der Dunkelheit
Und doch fügen sich diese Elemente hier sehr schön zusammen. Oft auch sehr intensiv. Ava betont die finsteren Aspekte einer solchen Selbstsuche. Wo beispielsweise das thematisch ähnliche Mein Blind Date mit dem Leben die Erblindung nutzte, um als Wohlfühlkomödie vom Überwinden von Schwierigkeiten zu reden, bleibt einem hier etwas Vergleichbares verwehrt. Ava ist kein Vorzeigebeispiel für Mut und Kraft. Sie ist allgemein als Vorbild wenig brauchbar: Sie stiehlt, lügt, macht nur, was sie will, interessiert sich kein Stück für die Belange anderer. Vor allem ab dem Zeitpunkt, wenn sie in Juan mehr Zeit miteinander verbringen, gewinnt der Film wilde, grausame Züge – eine Mischung aus American Honey und Herr der Fliegen.
Das Ergebnis ist für einen Coming-of-Age-Film zwar nicht unbedingt sehr nah am Alltag. Vielmehr wandelt Ava zwischen universellen Bedürfnissen und außergewöhnlichen Reaktionen hin und her. Zeigt uns eine Jugendliche, die gleichzeitig nachvollziehbar und unangenehm ist. Dazu gibt es Aufnahmen, die noch klassisch auf 35 Millimeter gedreht worden sind, um das Geschehen wie ein altes Familienvideo wirken lassen. Vertraut, aus der Zeit gefallen, zeitlos, unheimlich. Fürs reguläre Kino ist das eher weniger geeinigt, für Festivals umso mehr: Seit der Premiere in Cannes ist das Debütwerk gut herumgekommen, ist derzeit auf dem 35. Filmfest München und beim Neuchâtel International Fantastic Film Festival zu sehen.
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