(OT: „Louise en Hiver“, Regie: Jean-François Laguionie, 2016)
Im Sommer, da kann man in Biligen kaum einen Schritt tun – so überlaufen ist das kleine Städtchen am Meer dann von Touristen. Doch mit dem letzten Zug im Jahr ist alles ganz anders: Plötzlich ist der Ort ausgestorben, keine Menschenseele ist dann noch anzutreffen. Bis auf Louise. Die wollte eigentlich selbst nur Urlaub in Biligen machen, verpasst es aber, sich rechtzeitig auf den Rückweg zu machen. Anstatt sich jedoch retten zu lassen, beschließt sie, das Glück in die eigenen Hände zu nehmen und einfach den Winter dort allein zu verbringen. Sie baut sich eine kleine Hütte, freundet sich mit einem Hund an und schwelgt während der langen Wartezeit vor allem in Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre Jugend.
Wie wenig Prestige Animationsfilme im Vergleich zu den realen Kollegen genießen, das lässt sich auch schon daran festmachen, dass nur wenige Regisseure jemals zu bekannten Namen heranwachsen. Ihre Filme mögen weltweit mehrere Hundert Millionen Dollar einspielen, wer dahintersteckt, ist oft aber eher Insiderwissen. Das mag sicher auch daran liegen, dass so manches Werk darunter nicht viel mehr als farbenfrohes Fast Food für Kinder ist. Schnell verdaut, schnell vergessen. Aber selbst die ambitionierten Filmemacher tun sich schwer damit, aus der Anonymität herauszubrechen – von wenigen Ausnahmen wie den Studio Ghibli Granden Hayao Miyazaki und Isao Takahata einmal abgesehen.
Ein etablierter Geheimtipp
Einer dieser Filmemacher, die sehr viel mehr Ansehen genießen sollten, ist Jean-François Laguionie. Der ist inzwischen stolze 77 Jahre alt und veröffentlicht seit über 50 Jahren Animationsfilme. Dafür gab es in seiner Heimat Frankreich diverse Preise, außerhalb ist der Altmeister jedoch nahezu unbekannt. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass seine wenigen Langfilme nur teilweise im Ausland veröffentlicht wurden. Leider. Bei Louise en Hiver sieht es derzeit auch nicht danach aus, als würden sich internationale Verleihe darum reißen, lediglich beim 35. Filmfest München ist der Streifen derzeit zu sehen. Kein Wunder: Nachdem sich der Veteran zuletzt an mehreren Kinderfilmen versucht hat, sind Zielgruppe und Inhalt hier wieder deutlich erwachsener.
Humor ist vorhanden, wird aber eher sparsam eingesetzt. Auch mit Abenteuern hat der Film nichts am Hut – obwohl er eigentlich eine Survival Story à la „Robinson Crusoe“ erzählt. An einer Stelle scherzt Louise sogar, dass sie den Hund doch Mittwoch nennen könnte, in Anlehnung an den großen Literaturklassiker. Aber in echter Gefahr ist die alte Dame hier nie: Wilde Tiere gibt es keine, zu essen findet sie am Strand genug. Vor allem aber findet sie sich selbst. Die Einsamkeit des maritimen Dorfes wird hier zum Schauplatz von Selbstreflexion und Erinnerung, die Begegnung mit der menschenleeren Natur wird zu einer sehr persönlichen Reise in die eigene Vergangenheit.
Realität und Traum, Erinnerung und Gegenwart
Wo das eine beginnt und das andere aufhört, ist dabei nicht immer klar. Bilder aus der Jugend vermischen sich mit Erscheinungen aus dem Alltag, die Welt da draußen und die Welt im Inneren werden zu eins. Von Anfang an zeigt sich Louise en Hiver hier von einer verträumten, fast märchenhaften Seite. Eine reine Schönwetterpostkarte ist der Film dabei trotz der idyllischen Landschaft jedoch nicht. Misshandlung, Einsamkeit, Tod – in die entspannten Spaziergänge am Strand mischen sich auch ernste Themen, finstere Themen. Zuweilen demonstriert Laguionie herbei auch wieder seine Liebe zum Surrealen, die sein Werk seit seinem Spielfilmdebüt Gwen et le livre de sable im Jahr 1985 begleitet.
Bei seinem fünften Langwerk ist der Ausflug in eine Parallelwelt jedoch deutlich seltener und auch sanfter, so als wäre der Franzose wie seine Protagonistin mit den Jahren milder geworden. Dazu passt auch die angenehme und reduzierte visuelle Umsetzung. Wie schon in seinem letzten Film The Painting ließ sich Laguionie von Gemälden inspirieren – genauer solchen aus dem frühen 20. Jahrhundert – und setzte dies in einer Mischung aus 2D und 3D um. Während die Hintergründe traditionelle Zeichnungen sind, wurden die Figuren mithilfe von Computern zum Leben erweckt. Allerdings auf eine Weise, die nur wenig mit den CGI-Blockbustern gemeinsam hat: Die verschiedenen Elemente fügen sich sehr harmonisch in Pastelltönen zusammen, lediglich der Hund ist nicht immer ganz geglückt. Ein weiteres Manko, für manche zumindest: Sehr viel Handlung hat das Ganze nicht, Louise en Hiver erfordert mit seiner ruhigen und assoziativen Erzählweise Geduld. Wer die mitbringt, sollte sich das kleine Kunstwerk nicht entgehen lassen. Für Anhänger leiser, erwachsener Animationsfilme aus dem Alltag – etwa Wrinkles oder My Dog Tulip –, für die ist die französisch-kanadische Co-Produktion sogar ein Muss.
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