(OT: „Another“, Regie: Tsutomu Mizushima, Japan, 2012)
Wirklich leicht ist es ja nie, als neuer Schüler in eine Klasse zu kommen. Für Kōichi Sakakibara, der kürzlich aus Tokio in die Kleinstadt Yomiyama gezogen ist, ist es aber besonders kompliziert: Aufgrund seiner Krankheit startet er erst später ins Schuljahr als die anderen, weshalb er die wichtige Einführung verpasst hat. Vieles kommt ihm fremd und unverständlich vor. Warum zum Beispiel ignorieren alle außer ihm das Mädchen mit der Augenklappe, welches hinten in der Ecke sitzt? Weshalb fällt es hier so vielen schwer, sich an früher zu erinnern? Und was hat es mit dieser Geschichte auf sich, dass vor 26 Jahren ein Mädchen plötzlich gestorben sein soll?
Animes und Horror, das ist eine lange Geschichte der Missverständnisse. Und Ärgernisse. „Gibt es überhaupt gute Horror-Animes?“, wird in Foren immer mal wieder gefragt. Eine verständliche Frage, da das Angebot doch recht überschaubar ist. Zwar gab es gerade in den 80ern eine ganze Welt von düsteren Animes. Die setzten jedoch mehr auf Brutalität denn gepflegte Gruselstimmung. Wer es etwas subtiler mochte, der schaute oft in die Röhre. Das gilt hierzulande umso mehr, schließlich sind Genreperlen wie Boogiepop Phantom, Higurashi – When They Cry oder Ayakashi: Samurai Horror Tales nie in Deutschland veröffentlicht worden. Lediglich Dusk Maiden of Amnesia ging zuletzt in die Richtung, jedoch nicht so ganz, verband Gothic mit Romanze und Comedy.
Juhu, endlich wieder ein Horror-Anime!
So manch einer dürfte daher kräftig gefeiert haben, als letztes Jahr mit rund vier Jahren Verspätung Another in die hiesigen Läden kam. Grundlage bildete hier mal weder Manga noch Light Novel, stattdessen handelt es sich bei der Serie um die Umsetzung eines Romans von Naoyuki Uchida. Das hört sich erst einmal vielversprechend an. Zum einen verdanken wir der schreibenden Zunft diverse Höhepunkte der J-Horror-Welle um die Jahrtausendwende – etwa Ring oder Dark Water. Uchida wurde zudem für diverse Preise nominiert, sein Debüt „The Decagon House Murders“ erfreut sich bis heute größerer Beliebtheit.
Der Anfang von Another erinnert dann auch an diverse Vertreter fernöstlicher Gruselgeschichten. Der Wechsel an eine neue Schule auf dem Land, Gerüchte von Flüchen und seltsamer Vorkommnisse, dazu ein Laden, der ausschließlich unheimliche Puppen verkauft und wohl auch deshalb nie einen Kunden hat – das ist alles nicht neu oder einfallsreich, immerhin aber solide vom Studio P.A. Works (Professor Layton und die ewige Diva, Charlotte) umgesetzt, von den langweiligen Figurendesigns abgesehen. Neulinge dürfen sich an der gespannten Atmosphäre erfreuen, die auch durch die an Silent Hill erinnernde Musik und die obligatorischen Handystörungen verstärkt wird. Alteingesessene werden zumindest lächeln, während sie längst erkannt haben, was hier gespielt wird. Oder es zumindest denken.
Moment … das ist eben nicht wirklich passiert, oder?
Tatsächlich sticht Another aus dem Genreeinerlei hervor, dass sich hier eben nicht an die Standardgeschichte gehalten wird. Was anfangs noch klar erscheint, ist es später nicht mehr, anstatt Puzzleteile zusammenzusetzen, tauchen ständig neue auf. Die Serie kommt dabei aber nicht wirklich hinterher, mit einem fast schon sadistisch langsamen Tempo schleicht sie um die Gänge, winkt mit Zaunpfählen, die anschließend wieder im Nebel verschwinden. Das liegt auch daran, dass sich Figuren immer nur dann an etwas erinnern können, wenn es gerade in den Kram passte. Insgesamt ist das mit der Plausibilität hier aber so eine Sache. Die ist in dem Bereich grundsätzlich oft Nebensache, hier wird sie vollkommen über Bord geworfen – gerade zum Ende hin, wenn die Geschichte plötzlich eine ganz andere Richtung einschlägt.
Ob dieser Wechsel gut oder schlecht ist, daran scheiden sich die Geister. Auf der einen Seite ist es natürlich immer löblich, wenn jemand abseits der eingestaubten Horrorpfade nach Geschichten sucht. Schwierig wird es jedoch, wenn dies wie hier in absoluter Willkür endet. Nichts ergibt mehr wirklich Sinn, Figuren machen auf einmal, was sie wollen, sind zudem wieder bemerkenswerte Beispiele dafür, wie sehr sich das Genre darauf verlässt, dass junge Menschen immer genau das Falsche und Dumme tun: Another ist eine Beleidigung für jeden, der von Charakteren eine gewisse Intelligenz erwartet. Andererseits passt das zu einer Serie, die das Atmosphärische zugunsten einer bizarren Blutorgie opfert, die eher belustig als fesselt. Regisseur Tsutomu Mizushima hatte schon in Blood-C gezeigt, dass er eine etwas komische Vorstellung von Spannung hat. Hier ist das noch einmal verstärkt: Der Anime ist eine Genreentgleisung, wie man sie nur selten zu Gesicht bekommt – im Guten wie im Schlechten. Das kann man großartig finden oder eine bodenlose Frechheit, vergessen wird man das Ergebnis aber so oder so nicht.
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