(OT: „Juste La Fin Du Monde“, Regie: Xavier Dolan, Frankreich/Kanada, 2016)
Zehn Jahre haben sie sich schon nicht mehr gesehen. Zwölf sogar, wenn man dieses eine Mal nicht dazu zählt. Und auch sonst war der Kontakt zwischen dem erfolgreichen Schriftsteller Louis (Gaspard Ulliel) und seiner Familie spärlich, beschränkte sich auf wenige nichtssagende Postkarten. Doch nun ist er wieder da. Sie alle sind da, für ein Wochenende vereint. Seine Mutter (Nathalie Baye). Seine kleine Schwester Suzanne (Léa Seydoux), die kaum noch Erinnerungen an ihn hat. Sein älterer Bruder Antoine (Vincent Cassel), der zu viele Erinnerungen hat, und dessen Frau Catherine (Marion Cotillard). Von einer freudigen Familienzusammenführung kann aber keine Rede sein: Schon nach wenigen Minuten kommt es zu ersten Auseinandersetzungen, das gesamte Treffen droht, in einer absoluten Katastrophe zu enden. Dabei war Louis eigentlich gekommen, um seiner Familie von seinem baldigen Tod zu berichten.
Irgendwann musste es ja mal passieren. Wer wie Xavier Dolan von einem Höhenflug zum nächsten eilt, der muss irgendwann auch einmal abstürzen. Schon mit seinem ersten Film I Killed my Mother war er in Cannes zu sehen, wurde mit Kritikerlob überhäuft, als Wunderkind gefeiert. Vier weitere Filme hielt dieser Titel, bevor der Kanadier letztes Jahr mit seinem sechsten Großwerk das Publikum mächtig vor den Kopf stieß. Während einige nach wie vor zu dem Ausnahmeregisseur halten, Einfach das Ende der Welt beispielsweise bei den César Awards kräftig mitmischte, waren viele andere irritiert. Um nicht zu sagen sehr enttäuscht.
Aus dem schrecklich normalen Alltag
Sicher spielte das für Dolan fast schon erschreckend normale Thema eine Rolle hierbei. Während in Laurence Anyways das turbulente Leben eines Transsexuellen im Mittelpunkt stand und Mommy von einem unbändigen, gewalttätigen Jugendlichen erzählte, geht es hier „nur“ um eine kaputte Familie. Das hat man schon oft gesehen. Ein nahender Tod ist ebenfalls ein gern genutzter Anlass, um Menschen wieder zusammenzuführen. Banal ist der Film damit aber noch nicht. Da wären zum einen die visuellen und musikalischen Ticks, die wir von dem Filmemacher schon gewohnt sind. Poplieder, die sich mit Ellbogen den Weg ins Geschehen bahnen. Möglich, dass Dolan damit die Einschränkungen der Vorlage aufbrechen wollte: Einfach das Ende der Welt basiert auf dem gleichnamigen Stück des jung verstorbenen Bühnenautors Jean-Luc Lagarce. Das Setting ist entsprechend eingeschränkt, kaum mal kommen die Familienmitglieder aus dem Haus.
Das allein wäre jedoch noch kein Problem: Sag nicht, wer du bist!, der vierte Film Dolans, war ebenfalls eine Theaterstückadaption und hatte keine nennenswerten Schwierigkeiten darin, dies vergessen zu lassen. Und doch sind beide Werke quasi das Gegenteil voneinander. Überzeugte er beim letzten Mal durch die Spannung, wie und wo es knallen will, gibt es in Einfach das Ende der Welt gleich den Knall – ohne die Spannung davor. Viele Sachen bleiben dann auch sehr kryptisch. Welche tödliche Krankheit hat Louis denn nun? Weshalb musste er damals unbedingt weg? Warum wollte er nichts mit der Familie zu tun haben? Und was hat es mit Antoine auf sich, der jeden Halbsatz und jeden Blick als Katalysator für seine Ausfälle verwendet?
Ein Rätsel bis zum Schluss
Dass viele an der Stelle frustriert das Handtuch werfen, ein Wunder ist das nicht. Wo andere Filmemacher fein säuberlich die Schichten abtragen, um so zum Herzen einer Person oder einer Familie vorzudringen, bleibt Dolan an der Oberfläche. Er erklärt nicht, versucht nicht beim Publikum Sympathien oder wenigstens Verständnis für seine Figuren zu wecken. Er konfrontiert uns mit einer überaus unangenehmen Situation – der Streit innerhalb einer Familie – und verweigert uns einen Ausweg daraus. Das ist anstrengend keine Frage, die ständigen Ausraster und Gemeinheiten von Antoine, die stotternd-schüchterne Catherine. Aber es ist auch faszinierend, wie sich hier Wunden so verselbständigt haben, dass eben nicht die übliche Vergebung und Annäherung rausspringt. Die Wucht, das Gift, der Schmerz. Er wohnt ja nicht weit weg, sagt Louis an einer Stelle. Und doch fühlt es sich an wie das Ende der Welt, wie hier eine Horde von Menschen sich gegenüberstehen und sich doch gegenseitig nicht finden können.
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