Walking Past the Future

Walking Past the Future

(OT: „Lu kuo wie lai“, Regie: Ruijun Li, 2017)

Walking Past the Future
„Walking Past the Future“ läuft im Rahmen des 35. Filmfests München (22. Juni bis 1. Juli 2017)

Lange haben sie es versucht, ganze zwanzig Jahre. Aber als die Yangs zeitgleich ihre Jobs verlieren, heißt es doch, der Großstadt Shenzhen den Rücken zuzukehren und in der alten Heimat Gansu von vorne anzufangen. Aber auch dort finden sie sich kaum zurecht, Geld und Arbeit sind in der Provinz rar. Und so entscheidet sich Tochter Yaoting (Zishan Yang), es erneut in Shenzhen zu versuchen, wo sie selbst geboren wurde. Diesmal aber auf eigene Faust. Während sie in einer Fabrik arbeitet und von einer eigenen Wohnung träumt, trifft sie auf den selbstbewussten Xinmin (Fang Yin), der ihr eine viel einfachere Methode des Geldverdienens in Aussicht stellt: als Versuchsperson für medizinische Tests.

Wenn alle in dieselbe Richtung laufen, dann liegt es in der Natur der Dinge, dass ein paar auf der Strecke bleiben. Vielleicht waren sie zu langsam, vielleicht zu ungeschickt, vielleicht zu doof. Vielleicht hatten sie auch einfach Pech. Und wenn es um ein Volk wie die Chinesen geht, bei dem immerhin über eine Milliarde Menschen im Rennen sind, dann sind die Zurückgelassenen so zahlreich, dass sie selbst eine größere Gruppe bilden. Und so verwundert es dann auch nicht, wenn Filmemacher immer häufiger eben diesen Leuten ihre Aufmerksamkeit schenken, die nicht unbedingt zu den Gewinnern zählen – sei es in Dokumentarfilmen wie Cotton oder wie hier in Spielfilmform.

Wohin des Wegs?
Dabei ist es in Walking Past the Future zunächst gar nicht so klar, um wen es eigentlich gehen soll. Anfangs sind es noch die Eltern, die Regisseur und Drehbuchautor Ruijun Li in den Mittelpunkt stellt, nachdem sie das Stadtleben gegen ihre alte Heimat eintauschen. Das wäre sicher ein spannendes Thema gewesen, ein Kontrast zu der üblichen Landflucht – was heißt es, als Verlierer im Nirgendwo zu landen? Im Anschluss interessiert sich Li aber gar nicht mehr dafür: Die Eltern werden ausgelagert, Töchterchen Yaoting ist die eigentliche Hauptperson, wie sie versucht, in Shenzhen ein Leben aufzubauen. So wie es viele andere auch tun.

Warum der chinesische Filmemacher zu Beginn den Rückwärtsgang einlegt, um dann doch bei dem anderen Thema rauszukommen, bleibt ein Geheimnis. Und es ist leider nicht das einzige Beispiel dafür, wie weniger hier mehr gewesen wäre. Für sich genommen sind die vielen Punkte, die Walking Past the Future anspricht, interessant und wertvolle Quellen, um etwas über das heutige Leben in China zu erfahren. Neben der besagten Stadt-Land-Problematik wären das zum Beispiel eine Verlagerung ins Virtuelle oder auch die populärer werdenden Schönheitsoperationen, um sich im harten Massenkampf Vorteile zu verschaffen. Und der Aspekt der medizinischen Tests, bei denen man hier nie so ganz sicher ist, wie viel davon noch gesetzeskonform ist, der allein wäre schon einen eigenen Film wert gewesen.

Viele Stationen, ungelenke Stolperpartie
Problematisch wird es jedoch, wenn all diese Punkte eben auch zusammengeführt werden sollen. Ärgerlich ist vor allem, dass Yaoting und Xinmin parallel eine Online-Beziehung aufbauen und sich im wahren Leben kennenlernen. Jeder Versuch, authentisch über die Situation heutiger Jugendlicher reden zu wollen, scheitert an dieser plumpen Verknüpfung. Auch sonst scheint der Regisseur und Drehbuchautor bei seinem vierten Werk kein großes Interesse daran zu haben, mit Wahrscheinlichkeiten und dem Alltag arbeiten zu wollen. Die Eltern verlieren zeitgleich ihre Arbeit, die Fabrik stürzt zufällig dann ein, wenn der Vater gerade nicht da ist, hinzu kommen tragische Krankheiten und große Unglücke. Alles muss, nichts kann.

Bei einem kürzeren Film, der allein aufgrund der Laufzeit ein paar Abkürzungen nehmen muss, wäre das noch leichter zu verkraften gewesen. Ein Drama, das fast 130 Minuten dauert, sollte aber geschicktere Werkzeuge der Geschichtenerzählung finden als derartig grobe Hämmer. So schön und spannend einzelne Momente dabei auch sind, über die ganze Distanz ist Walking Past the Future zu bemüht, zu angestrengt, zu anstrengend. Und das passt nicht wirklich zu einem Film, der eigentlich sehr ruhig ist und zurückgenommen über die Herausforderungen einer schnell wachsenden Nation berichten will. Sehenswert ist der Beitrag vom 35. Filmfest München schon, der Denkanstöße wegen, der farbentleerten, bläulich-tristen Bilder wegen. Der ganz große Gesellschaftskommentar ist er jedoch nicht.



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Heimat, Selbstsuche, Geldnot, Online-Sucht, fragwürdige Tests, Krankheit – es sind schon eine ganze Menge Themen, die Ruijun Li in seinen Film packt. Die sind für sich genommen durchaus spannend. Dafür hapert es an der Verknüpfung: „Walking Past the Future“ ist überladen und teilweise plump erzählt.
6
von 10