(OT: „120 battements par minute“, Regie: Robin Campillo, Frankreich, 2017)
In den frühen 1990er Jahren leidet Paris wie viele Großstädte an einer rasanten Ausbreitung von AIDS. In Frankreich ist die Situation sogar besonders schlimm im Vergleich zu den europäischen Nachbarn, was auch an den Umständen liegt: François Mitterrand versucht das Thema totzuschweigen, Pharmakonzerne wie Melton Pharm tun zu wenig. Zudem haben Betroffene mit Anfeindungen in der Öffentlichkeit zu kämpfen, auch weil zu wenig Aufklärungsarbeit betrieben wird. Um hier seinen Beitrag zu leisten, schließt sich Nathan (Arnaud Valois) der Aktivistengruppe Act Up an, wo er unter anderem Thibault (Antoine Reinartz), Sophie (Adèle Haenel) und Sean (Nahuel Pérez Biscayart) kennenlernt. Die Aktivisten befinden sich jedoch nicht nur im Kampf mit Politik und Wirtschaft, auch untereinander gibt es eine Reihe von Konflikten. Richtig kompliziert wird es, als sich Nathan dann auch noch in den HIV-positiven Sean verliebt.
AIDS? Das ist heute nur noch selten ein Thema. Richtig besiegt wurde die Krankheit zwar nie, mehr als 36 Millionen HIV-positive Menschen soll es heute noch geben. Durch bessere medizinische Versorgung hat die Autoimmunerkrankung jedoch ihre Dringlichkeit verloren – zumindest für Mitteleuropäer. Dass in Afrika die Infektionsrate ungebrochen hoch ist, interessiert da kaum mehr. Zu weit weg. Umso wichtiger ist, dass Robin Campillo (The Returned) daran erinnert, wie das war in den frühen 1990ern, als Hysterie auf Desinteresse traf. Denn trotz der großen medizinischen Fortschritte, 120 BPM hat noch immer einiges zu erzählen, ist mehr als nur historisch relevant.
Persönliches direkt aus dem Leben
Der französische Regisseur und Drehbuchautor mit marokkanischen Wurzeln hat auch einen persönlichen Bezug, war er doch selbst engagierter Aktivist im Kampf gegen AIDS. Zwar sind die Figuren und deren Geschichten frei erfunden, nehmen aber doch viele erlebte Momente in sich auf. Und das spürt man. 120 BPM ist nicht einfach nur nüchterne Aufarbeitung einer von Angst und Wut geprägten Zeit. Der Film springt mitten hinein ins Geschehen, ist auf eine atemberaubende Weise unmittelbar, lässt uns diese Gefühle von damals teilen. Wie in Pride seinerzeit dürfen wir in Begleitung eines Neuzugangs mehr über die Aktivisten erfahren. Hier wird nicht erst ein Kontext geschaffen, stattdessen geht es gleich rein ins kalte Wasser.
Leise ist das Drama dabei nicht, zumindest nicht im Anfang. Mit einer höchst umstrittenen Aktion der Aktivisten steigen wir in die Geschichte ein. Immer wieder sehen wir, wie die Leute in dem verzweifelten Kampf um Hilfe und Anerkennung Grenzen überschreiten. Manche Auftritte sind konstruktiv, andere eher skurril, dann wieder geht es eindeutig um reine Provokation. Schön ist dabei, wie Campillo um Differenzierung bemüht ist. Auch wenn der Kampf der Aktivisten wichtig und richtig war, so ist damit nicht automatisch alles gut, was dort passierte. Man muss die Leute auch nicht unbedingt mögen, die hier mitmischen. Immer wieder kommt es sogar zu Szenen, die einem genau das sogar richtig schwer machen.
Ein wütender Chor aus vielen Stimmen
120 BPM erreicht das auch, indem die Heterogenität der Gruppe aufgezeigt wird. Die Ziele der Mitglieder sind ähnlich. Die Ansichten und Persönlichkeiten sind es nicht. Die Konfrontationen mit der Welt da draußen machen sogar einen vergleichsweise geringen Teil des Films auf. Sehr viel häufiger sehen wir, wie die einzelnen Teilnehmer in einem Vorlesungssaal lautstark debattierten und ihre doch recht konträren Meinungen vortragen. Das ist nicht nur als Gruppen- bzw. Zeitporträt interessant, es regt auch zum Nachdenken an. So wird beispielsweise diskutiert, welche Mittel die richtigen sind oder auch, worauf es überhaupt ankommt. Anstatt nur das Ergebnis der Aktionen zu sehen, blicken wir ins Herz der Menschen, die hinter der Aktion stecken.
Nach dem lauten und schrillen Einstieg wird es später immer leiser. Die Aktionen finden weiterhin statt, rücken aber zugunsten der Liebesgeschichte in den Hintergrund. Die wirkt an manchen Stellen etwas gekünstelt – Stichwort Flashback –, neigt auch dazu, selbst etwas verkopft zu sein. Beeindruckend wird es jedoch, wenn der bereits erkrankte Sean immer schwächer wird und Nathan nicht von seiner Seite weicht. Dann führt 120 BPM noch einmal vor Augen, worum es hier eigentlich geht. Nicht um Politik. Nicht um Debatten. Nicht um Anerkennung. Sondern um die Menschen. Da Campillo hier glücklicherweise auf Kitsch verzichtet, ist das AIDS-Drama trotz der historischen Komponente und des speziellen Themas ein aufwühlender Film, den sich jeder ansehen kann und vielleicht auch sollte. Leben und Tod liegen hier nahe beieinander, Party und Trauer, Sex und Hässlichkeit, Wut und Liebe.
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