(OT: „Miséricorde“, Regie: Fulvio Bernasconi, Kanada/Schweiz, 2016)
Auch der schönste Urlaub muss einmal ein Ende haben. Und so packt der Schweizer Thomas (Jonathan Zaccaï) die Koffer, der Flug zurück in die Heimat ist bereits gebucht. Mehrere Wochen hat er in Kanada in einem indianischen Reservat verbracht und dort gefischt. Doch kurz vor der Abreise geschieht eine Tragödie: Ein Jugendlicher namens Mukki wird von einem Truck angefahren und stirbt kurze Zeit später, von dem Täter keine Spur. Die Polizei nimmt zwar rasch die Ermittlungen auf. Dennoch beschließt Thomas, seine Heimreise abzubrechen und sich selbst auf die Suche nach dem mysteriösen Fahrer zu begeben.
Die Oscar-Verleihung ist noch eine ganze Weile hin, Jeremy Renner werden im Rennen um die Trophäe als bester Hauptdarsteller aber gute Chancen zugestanden. Anlass ist Wind River, eine düstere Mischung aus Drama und Thriller, in der es um die Aufklärung eines Todesfalls geht, der sich in einem Indianerreservat zugetragen hat. Zumindest die Schweizer könnten dabei das eine oder andere Déjà-vu-Erlebnis haben, erzählte die schweizer-kanadische Coproduktion Miséricorde einige Monate zuvor doch eine recht ähnliche Geschichte. Und so wie beim prominenten Kollegen verschwimmen auch hier persönliche Schicksale und eine allgemeine Trostlosigkeit zu einem durch und durch eisigen Film.
Ein Strudel aus Schuld
„Niemand entschuldigt sich bei uns“, sagte Alice an einer Stelle, die Mutter des toten Jungen. Im heutigen Amerika werden die Nachkommen der Ureinwohner vielleicht nicht mehr offen verfolgt. Dafür wurden sie so weit an den Rand gedrängt, dass die Perspektivlosigkeit nur noch zwei Auswege kennt: abhauen oder sich betrinken. Mukki wählte das zweite. Das bedeutete nicht nur sein Ende, sondern löst einen ganzen Strudel aus Schuld und Leid aus, in dem jeder zu ertrinken droht. Die Mutter, die ihren Sohn nicht begraben kann, so lange sie nicht den Täter kennt. Der Onkel, der ihn allein und betrunken losgeschickt hat. Und auch Thomas ist stärker in der Geschichte verstrickt, als es anfangs jeder versteht.
Spannend ist Miséricorde aus zwei Gründen. Zum einen will man als Zuschauer natürlich wissen, wer den Jugendlichen angefahren und sterbend zurückgelassen hat. Aber auch die Motivation von Thomas ist ein großes Rätsel, innerhalb wie außerhalb des Films. Bei Zaccaï (The Returned) wird aus dem Schweizer ein undurchsichtiger Mann mit Hang zu Aggressionen, aus dem man nicht ganz schlau wird. Vergleichbar majestätische Bilder wie bei Wind River begleiten diese Suche zwar nicht, trotz einer Kamera-Nominierung beim Schweizer Filmpreis. Sehenswert sind sie dennoch, die menschenleeren, trüben Aufnahmen einer vergessen, verlassenen Welt. Die einsamen Straßen, die allenfalls für Tierunfälle bei der Zufallsbekanntschaft Mary-Anne (Evelyne Brochu) gut sind, haben immer etwas Bedrückendes an sich. Denn so weit die Figuren auch auf ihnen fahren, sie können doch nicht sich selbst entkommen. Nicht den Erinnerungen, die sie heimsuchen.
Spannung davor und danach
Lange Zeit ist der Beitrag der Französischen Filmtage Tübingen-Stuttgart eine Art Thriller mit Roadmovie-Elementen. Die Jagd auf den Täter, ein großer, schwarzer Truck, dazu die bedrohliche Musik – das reicht, um einen das Übelste vermuten zu lassen. Erst später, wenn die Karten auf dem Tisch liegen, wird die eigentliche Frage gestellt: „Was jetzt?“ Der Film beschäftigt sich vor allem anfangs mit der Suche nach dem Schuldigen. Ist der aber erst einmal gefunden, fängt die eigentliche, schwierige Aufgabe an: das Verarbeiten der eigenen Schuld, das Verzeihen der anderen. Der Teil kommt hier zwar etwas kurz, beschert uns aber einige intensive Momente, zudem kleinere folkloristische Elemente – umso bedauerlicher, dass sich bislang kein deutscher Verleih gefunden hat und wir auf Festivalteilnahmen angewiesen sind.
(Anzeige)