(OT: „Murder on the Orient Express“, Regie: Kenneth Branagh, USA, 2017)
Alles hat einmal ein Ende, selbst die große Karriere des berühmten Detektivs Hercule Poirot (Kenneth Branagh). So dachte er zumindest. Irgendwie will das mit der Ruhe aber so gar nicht klappen. Erst zwingt ihn ein dringender Fall, sehr plötzlich den Orient-Express nehmen zu müssen – was nur aufgrund seines langjährigen Bekannten Bouc (Tom Bateman) funktioniert. Dann lernt er an Bord den unangenehmen Geschäftsmann Samuel Ratchett (Johnny Depp) kennen, der unbedingt seinen Schutz einkaufen will, weil er sich verfolgt fühlt. Und dann auch noch das: Kurz nachdem Poirot diesen Auftrag ablehnt, ist Ratchett tatsächlich tot. Aber wer könnte ihn ermordet haben? Und weshalb? Während der Zug aufgrund einer Schneelawine festsitzt, beginnt Poirot doch noch, nach dem Mörder zu suchen. Doch je mehr er ermittelt, umso weniger Sinn ergibt die Geschichte.
Ein bisschen überrascht sein durfte man ja schon, als tatsächlich eine Neuverfilmung von Agatha Christies „Mord im Orient-Express“ angekündigt wurde. So unterhaltsam und einflussreich das Werk der Queen of Crime auch war – mit mehr als zwei Milliarden verkauften Büchern ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen aller Zeiten –, so ganz passen sie nicht mehr in die heutige Landschaft. Wenn im neuen Jahrtausend auf Mörderjagd gegangen wird, dann müssen die Ermittler psychische Wracks sein, dazu gibt es kräftige Actionszenen, damit das Publikum ein bisschen vom Denken erlöst wird. Bei der englischen Schriftstellerin war das noch anders: Ihre Fälle waren wie große Puzzles, klassische Whodunnits, bei denen die Rätsel selbst im Vordergrund standen. Kann so etwas im Jahr 2017 überhaupt noch funktionieren?
Klassischer Krimi, modern präsentiert
Die Antwort kommt von Kenneth Branagh, der sich mit der Verfilmung von klassischen Stoffen ja bestens auskennt – seien es seine Shakespeare-Adaptionen oder vor zwei Jahren das Märchen-Remake Cinderella. Insgesamt hält sich der Brite hier eng an die Vorlage und an die Stärken des Buches, versucht gleichzeitig aber auch, dem heutigen Publikum etwas entgegenzukommen. Das mag auch daran liegen, dass er ein schweres Erbe antreten muss: Der Roman von 1934 wurde schon mehrfach verfilmt, Sidney Lumets stargespickte Version aus dem Jahr 1974 gilt als eine der besten Christie-Filme überhaupt. Da muss man schon etwas Neues bieten, ohne dabei die Fans der Krimiautorin zu vergrätzen.
Insgesamt gelingt Branagh das gut. In vielerlei Hinsicht ist Mord im Orient-Express ein wohltuend altmodischer Film, nicht nur des historischen Settings wegen. Und doch ist er weniger spröde als der berühmte Vorgänger, der in erster Linie aus Verhörsituationen bestand. Die wurden hier zusammengekürzt, einige Gespräche finden parallel statt, um Zeit zu sparen. Dafür gibt es hier mehr Emotionen. Die sind teilweise ein bisschen aufdringlich, der neue Krimi ist nicht unbedingt der subtilste Genrevertreter. Wenn beispielsweise schon bei einem der ersten Sätze klar wird, wie das Schlusswort ausfällt, dann fehlt dem Inhalt ein wenig die Eleganz seines Dekors. Dafür wird der Film dem Roman anderweitig gerecht, der einer der traurigsten im umfangreichen Oeuvre der Autorin ist.
Ein bisschen Humor, sehr viele Stars
Ausgeglichen wird der leichte Hang zum Kitsch durch Humor. So wie einst die Verfilmungen mit Peter Ustinov (Tod auf dem Nil, Das Böse unter der Sonne) reichert Branagh die Geschichte mit vielen witzigen Szenen und Dialogen an, ohne daraus gleich eine Komödie machen zu müssen. Und noch etwas eint Mord im Orient-Express mit eben jenen Verfilmungen aus den 70ern und 80ern: das Staraufgebot. Neben Branagh und Depp sind auch Josh Gad, Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Derek Jacobi, Leslie Odom Jr., Daisy Ridley, Marwan Kenzari, Olivia Colman, Lucy Boynton, Manuel Garcia-Rulfo und Sergei Polunin zu sehen. Da werden Erinnerungen an eine Zeit wach, als Oscar-Preisträger noch Schlange standen, um bei der neuesten Agatha-Christie-Verfilmung mitspielen zu dürfen. Spaß macht es, ihnen dabei zuzusehen, vor allem Branagh als süffisanter Detektiv, Pfeiffer als männermordendes Vamp und Dench als arrogante Aristokratin. Und auch bei den Bildern wurde wie damals nicht gespart: Der Einsatz von Computern ermöglicht bombastische Aufnahmen aus dem Orient wie auch der Schneelandschaft. Zudem darf die Kamera den einen oder anderen Meter zurücklegen, bietet uns so an manchen Stellen sehr ungewöhnliche Perspektiven auf das mörderische Treiben.
Zu sehen gibt es also mehr als genug in dem Film. Aber wie sieht es mit der Geschichte aus? Branagh und Drehbuchautor Michael Green (Logan – The Wolverine, Alien: Covenant) haben glücklicherweise darauf verzichtet, allzu viel verändern zu wollen. Wer das Buch oder die anderen Adaptionen kennt, der weiß daher schon, was hier gespielt wird und kann sich ganz auf die tollen Darsteller und die noble Umsetzung konzentriert. Neulinge dürfen sich hingegen darauf freuen, einen der ungewöhnlichsten Kriminalfälle der Literaturgeschichte kennenzulernen. Wie auch bei Zehn kleine Negerlein – Das letzte Wochenende – der berühmteste Roman von Christie – nutzte die Schriftstellerin hier ein bewährtes eingeschlossenes Setting, um zu einem unerwarteten Ende zu kommen. Das ist wie so oft zwar nur bedingt glaubwürdig, aber doch nah genug dran an der Realität, um es noch akzeptieren zu können. Schade ist lediglich, dass einige der Figuren doch sehr stiefmütterlich behandelt werden, man zwischenzeitlich komplett vergisst, dass es sie überhaupt gibt. Gelohnt hat sich die Rückkehr in vergangene Zeiten dennoch, Mord im Orient-Express ist trotz des Hangs, etwas dicker aufzutragen, ein sehr sehenswerter Krimi, der hoffentlich noch zu weiteren Teilen führen wird. Branagh zumindest hat diese nicht ausgeschlossen, sofern das Publikum mitspielt.
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