(OT: „November“, Regie: Rainer Sarnet. Estland/Niederlande/Polen, 2017)
Liina (Rea Lest) hat eigentlich nur einen richtigen Wunsch: Sie möchte endlich mit dem hübschen Dorfjungen Hans (Jörgen Liik) zusammenkommen. Dummerweise hat der jedoch nur Augen für die Tochter des Barons, die schlafwandelnd nachts umherstreicht. Aber auch die anderen Menschen haben ihre Sorgen. Geld hat praktisch niemand, das Essen ist knapp. Zudem streift noch die Pest umher und holt sich regelmäßig einen der Bewohner. Nur mit Einfallsreichtum, Tricks und dem einen oder anderen Pakt mit dem Teufel kommen sie hier noch um die Runden.
Manchmal braucht es nur einige wenige Minuten, um zu realisieren, dass man es mit einem ganz besonderen Film zu tun hat. Gesprochen wird nicht viel in November, auch später nicht. Aber das braucht es auch gar nicht, die Bilder sprechen für sich – selbst wenn es eine Sprache ist, die man nicht versteht. Kratt heißen die kleinen Gestalten, welche die Dorfbewohner aus Haushaltsgegenständen zusammenbauen. Rohre, Heugabeln, ein alter Kuhschädel. Was man eben so findet. Ein solcher Kratt wirbelt zu Beginn des Films umher. Der Auftrag: eine Kuh holen. Später wird ein Auftrag folgen, aus Brot eine Leiter zu bauen. Und man würde dieser seltsamen Kreatur selbst das zutrauen, die nach wenigen Minuten sämtliche Wege verlassen hat, die man zuvor zu kennen glaubte.
Verloren im Genrewald
Schon die Einteilung in ein Genre gestaltet sich ein klein wenig knifflig. Im Herzen ist November natürlich die Geschichte eines Liebesdreiecks, wie es immer mal wieder vorkommt: Sie liebt ihn, er liebt eine andere. Die Versuche von Liina, ihren Hans zu erobern, rücken aber gerne mal in den Hintergrund. Vieles in dem Film ist so grotesk, dass die Vermutung einer Komödie naheliegt. Da wären die besagten Kratts, eine Art historischer Roboter. Aber auch die Strategien der Dorfbewohner, der Pest aus dem Weg zu gehen – die übrigens ganz anders aussieht, als man denken könnte –, auch die sind wahnsinnig komisch. Und wahnsinnig sowieso.
Gleichzeitig nähert sich November aber immer wieder dem Horrorgenre an. Dunkle Nächte, unter den Leben wandelnde Tote, der Teufel, Anspielungen auf Werwölfe – das ist klassisches Material von Schauermärchen. Wie ein solches wirkt die Adaption eines Romans des estnischen Autors Andrus Kivirähk dann auch. Manchmal. Vieles kommt einem bekannt vor, ist dann aber doch so eigen, dass es sich den Erwartungen entzieht. Absurdes und Alptraumhaftes finden hier zueinander, eine Mischung aus den Meta-Spinnereien in Anhedonia – Narzissmus als Narkose und dem psychologischen Horror eines Hagazussa – A Heathen’s Curse. Der Ausflug in archaische Mythen und Bräuche fasziniert und stößt ab, unterhält und (über-)fordert. Widersprüche sind dabei kein Widerspruch, sie sind eingeplant. So eingeplant, wie Träume sein können, in denen hier und morgen ineinanderfließen.
Kunstvolles Märchen für eine kleine Zielgruppe
Nein, für die Massen ist der Beitrag der Nordischen Filmtage Lübeck 2017 nichts, auch wenn die Vorlage in der Heimat wohl erfolgreich war. Vieles wird nicht erklärt, es gibt kaum Identifikationsfiguren. Am ehesten sind es noch die Bilder, welche auch weniger experimentierfreudige Zuschauer an ihre Sitze fesseln. Schwarzweiß sind sie, ebenso rätselhaft wie der Inhalt, aber eben auch sehr atmosphärisch: Die grandiosen Aufnahmen einer fremden, vergangenen Welt halten zusammen, was nicht zusammen gehört, geben dem Wahnsinn erst seinen Sinn. Man muss die experimentell-eigenartigen Szenen nicht zwangsweise mögen, vergessen wird man sie im Anschluss aber kaum.
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