Ueberleben in Neukoelln
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Überleben in Neukölln

(OT: „Überleben in Neukölln“, Regie: Rosa von Praunheim/Markus Tiarks, Deutschland, 2017)

Ueberleben in Neukoelln
„Überleben in Neukölln“ läuft ab 23. November 2017 im Kino

Bald 75 Jahre ist Rosa von Praunheim inzwischen, ein Leben im Ruhestand kommt für den deutschen Regisseur aber nicht in Frage. Immer wieder wirkt er in neuen Filmen mit, mal hinter der Kamera (Härte), mal davor. In Überleben in Neukölln überlässt er wieder anderen das Reden, tritt selbst so gut wie gar nicht in Erscheinung. Und doch ist sein neuester Dokumentarfilm ein typischer von Praunheim, sowohl von der Umsetzung wie auch vom Inhalt her. Noch immer ist er fasziniert von den Menschen und ihren Geschichten, vor allem wenn sie nicht der Norm entsprechen. Und auch wenn sein neuester Beitrag sicher nicht die nachhaltige Sprengkraft von seinem Durchbruch Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt haben wird – dafür ist das hier zu persönlich –, so schafft er es doch immer wieder, das Private mit dem Politischen zu verbinden.

Ein Stadtteil im Wandel
Neukölln hat er sich dieses Mal als Thema ausgesucht, jenen Berliner Stadtteil also, der aufgrund von Gewaltübergriffen nicht unbedingt den besten Ruf genießt. Berüchtigt beispielsweise der Fall Schule Rütli, als Lehrer deren Schließung forderten, weil sie von der Gewalt durch die Schüler überfordert waren. Angesprochen wird der Fall in der Doku mehrfach. Zu sehen ist von der Problematik aber kaum etwas. Auch die Befragten betonen, dass das hier alles nicht so schlimm ist, wie es manchmal dargestellt wird. Größere Sorgen bereitet da schon der Wandel des Bezirks: Mit dem Ruf, nicht nur gefährlich, sondern vor allem auch trendy zu sein, kamen immer mehr wohlhabende Menschen hierher. Die Folge: Die Preise explodieren, überall sprießen neue Coffee Shops aus den Böden. So viel Kaffee könne man doch gar nicht trinken, gibt eine der Befragten dazu an. Die ist fast 90, kam vor Jahrzehnten hierher, um mit ihrer Geliebten zusammen sein zu können.

Ein Unikat ist sie und als Lesbe eine sexuelle Minderheit. So wie alle, die von Praunheim hier befragt. Bei aller Faszination für das Viertel und die Menschen, er ist und bleibt ein Sprachrohr für die LGBT-Community. Hin und wieder wird diese Abweichung von der Norm thematisiert. Ein Kabarettkünstler wird beispielsweise die These vertreten, dass der Hass auf Schwule daher rührt, weil heterosexuelle Männer neidisch auf deren analen Freuden sind. Spannender sind jedoch die Geschichten der Flüchtlinge, aus Syrien beispielsweise, die auch der sexuellen Orientierung wegen ihr Land verlassen mussten – die Doku nähert sich thematisch da HOMØE – Auf der Suche nach Geborgenheit an, das die Situation von LGBT-Flüchtlingen in Deutschland näher beleuchtet.

Hauptsache anders und bunt!
Von Praunheim bleibt an der Stelle jedoch nicht stehen. Vielmehr ist es ein ziemlich bunter Strauß, den der in Lettland geborene Filmemacher hier mitgebracht hat. Es ist dann auch diese Vielfalt, die Überleben in Neukölln sehenswert macht. Hier trifft Universelles auf Individuelles, Ernstes auf Kurioses. Nicht alles davon ist gleichermaßen interessant. Oder auch angemessen. Warum sich der Veteran beispielsweise dermaßen für den Galeristen Juwelia begeistert, dass er ihn bis nach Amerika und die Heimat in Hessen begleitet, erschließt sich nicht. Umso mehr, da das Thema Neukölln dadurch vollkommen vergessen wird.

Als umfassenden Überblick über das sich verändernde Kultviertel ist die Doku ohnehin nicht geeignet, wohl auch gar nicht gedacht, dafür ist der Ausschnitt zu eingeschränkt. Bei von Praunheim findet niemand einen Platz, der nicht dieser Nicht-Norm angehört. Und doch ist es eben spannend, hier auf Entdeckungsreise zu gehen, Menschen und ein Zuhause kennenzulernen, die so eigensinnig sind, dass einem bei dem Gedanken das Herz blutet, all das könne bald vorbei sein.



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In „Überleben in Neukölln“ nimmt uns Rosa von Praunheim mit in das umstrittene Berliner Viertel und stellt uns dessen Bewohner vor. Wie so oft konzentriert er sich dabei auf die ungewöhnlicheren Menschen, was die Doku etwas einseitig, gleichzeitig aber auch spannend macht.