(„Lilo & Stitch“, Regie: Dean DeBlois/Chris Sanders, USA, 2002)
Wenn sich Experiment 626 auf eines versteht, dann darauf, ein ziemliches Unheil anzurichten. Das bleibt auch der Galaktischen Föderation nicht verborgen, die Dr. Jumba Jookiba für unerlaubte genetische Experimente verhaftet und dessen Experiment auf einem einsamen Asteroiden aussetzen will. Dummerweise kommt es aber ganz anders und das unbändige Wesen landet versehentlich auf der Insel Hawaii auf der Erde. Dort bleibt es nicht lange unentdeckt, das Mädchen Lilo beschließt, das hundeähnliche Tier zu adoptieren und tauft es auf den Namen Stitch. Ausgestanden ist die Geschichte damit für Stitch aber nicht, die Föderation schickt ihm Jookiba und Agt. Wendell Pleakley hinterher, um den Ausreißer wieder einzufangen. Gleichzeitig hat Lilo ganz andere Sorgen, denn ein Sozialarbeiter will sie ihrer Schwester Nani wegnehmen, bei der sie seit dem Tod ihrer Eltern liebt.
Qualitativ mag die Animationssparte von Disney um die Jahrtausendwende nicht zu den besten Zeiten in der langen Historie zählen. Eines muss man ihr aber lassen: Es war eine der spannendsten Zeiten. Selbst während der diversen goldenen Phasen – etwa der Disney Renaissance in den 90ern – verließen sich die Künstler ganz gern auf das Bewährte. Doch einige Filme lang ab 2000 wusste man im Vorfeld nie so genau, was die Veteranen wohl als nächstes bringen würden. Von den Musicalnummern hatte man sich seinerzeit ebenso verabschiedet wie von populären Vorlagen, jeder Film war irgendwie anders, inhaltlich und auch optisch. Wirklich gut waren aber nur die wenigsten in dieser Zeit.
Helden, wie man sie sonst nie sieht
Lilo & Stitch ist eine dieser Ausnahmen, eine unterhaltsame Oase in der damaligen Animationsspaßwüste. Das lag teilweise an der ungewöhnlichen Optik. Nicht nur, dass hier zum ersten Mal seit den 1940ern wieder Wasserfarben bei den Hintergrundbildern zum Einsatz kamen. Vor allem aber die Designs sind es, die den Film aus dem Kanon der Mäusewerke hervorstechen lassen. Stitch ist eine bizarre Kreatur, sehr viel weniger niedlich als die meisten tierischen Protagonisten. Eigentlich ist er sogar irgendwie hässlich, selbst nachdem er seine überschüssigen Gliedmaßen und Stacheln verschwinden lässt. Aber auch die richtigen Zweibeiner sehen nicht so aus, wie wir es in zahlreichen Filmstunden gelernt haben: Die Augen sind weit auseinander, die Nasen sehr breit, die Figuren etwas plump gebaut, kein Vergleich zu den strahlenden Prinzessinnen im Disney-Stall.
Aber das sollen sie ja auch nicht sein. Trotz des sehr kuriosen Titel-Anti-Helden: Lilo & Stitch ist sehr viel näher am Alltag, als es Disney-Filme normalerweise sind. Die verzweifelte Suche nach einem Job, um über die Runden zu kommen? Das Sozialamt, welches das Kind wegnehmen will? Ein Kind, das Bilder davon malt, wie es einsam und allein zu Hause ist? Das ist nicht gerade märchenhaft. Die ernsteren Themen, auch die Sehnsucht nach einer Familie, sie werden bis zum Ende eine Rolle spielen. Chris Sanders (Drachenzähmen leicht gemacht), der zusammen mit Dean DeBlois auf ein eigenes, nie veröffentlichtes Kinderbuch aus den 80ern zurückgreift, ließ sich hier sehr von den Hawaiitrips beeinflussen. Familie, wie es die dortige Kultur in dem Wort ʻohana versteht, bedeutet nicht zwangsweise Blutsverwandtschaft. Es bedeutet, irgendwo zu Hause zu sein. Dazu zu gehören.
Komischer Besuch aus dem All
Das geht erwartungsgemäß nicht ganz ohne etwas gefühlvollere Momente. Insgesamt hält sich der Film aber doch angenehm zurück, badet sich nicht vergleichsweise im Kitsch, wie es andere Disneyanimationsfilme tun. Zudem gibt es in Lilo & Stitch – anders als beim ähnlich eigenwilligen vorangegangenen Atlantis – Das Geheimnis der verlorenen Stadt – tatsächlich eine ganze Menge zu lachen. Besonders die Versuche von Stitch, den galaktischen Häschern zu entkommen, indem er sich als „normal“ verkleidet, haben diverse unterhaltsame Momente zur Folge. Und auch Lilos Versuche, ihr Haustier anhand von hawaiianischer Kultur und Elvis Presley zu einem besseren Bürger zu machen, sind sehr amüsant. Der King of Rock’n’Roll steuert dann auch den Großteil des Soundtracks bei, was ebenfalls dazu beiträgt, dass der Film so anders wirkt als die meisten Disney-Filme. Abgerundet wird der Spaß durch die vielen bescheuerten Aliens und den Sozialarbeiter, der so aussieht, als wäre er eigentlich auf dem Weg zum Set von Men in Black. Da macht es dann auch schon fast gar nichts mehr aus, dass der obligatorische Sinneswandel von Stitch ein bisschen sehr schnell vonstattengeht.
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