Milla

Milla

(OT: „Milla“, Regie: Valérie Massadian, Frankreich, Portugal, 2017)

„Milla“ läuft im Rahmen der Französischen Filmwoche Berlin (29. November bis 6. Dezember 2017)

Unterschiedlicher als Milla (Séverine Jonckeere) und Leo (Luc Chessel) kann ein Paar kaum sein. Sie blickt immer angstfrei, mit kindlicher Fröhlichkeit und ohne viele Worte auf  die Dinge. Er ist nachdenklich, liebt Sprache und Bücher und kann seine Ängste nicht immer abwehren. Gute Gründe zur Sorge hat Leo zweifellos: Er und seine 17-jährige Freundin sind Ausreißer – mittellos, ohne Unterstützung. Und: Sie erwarten ein Kind. Doch mit Einfallsreichtum und unbändiger Lebenslust schaffen sie sich an der rauen Küste der Bretagne eine Art Zuhause und leben für kurze Zeit unbeschwert in bescheidenem Glück. Bis Leo plötzlich stirbt. Wer ab hier ein schweres, depressives Sozialdrama erwartet, wird enttäuscht. Milla bricht nicht zusammen, gleitet nicht in die dunkle Illegalität ab, sondern schlägt sich – in weißen Stoffschuhen und mit Kugelbauch – als Zimmermädchen in einem Hotel durch. Dann kommt das Kind zur Welt, um das sich Milla von nun an allein kümmern muss.

Verschmelzung von Naturalismus und Traumwelt
Mit unverwechselbarer künstlerischer Stimme und berauschenden Innen- und Landschaftsaufnahmen zeichnet die Regisseurin Valérie Massadian das Porträt der jungen Milla. Wie schon in ihrem Film Nana von 2011 steht auch hier eine Heldin im Zentrum, die am Rande der Gesellschaft lebt, aber auch im Herzen des Universums. In ihrem jüngsten Werk Milla, das im August in Locarno Premiere feierte, gelingt der Filmemacherin die große Kunst, Naturalismus und Traumwelt zu verschmelzen.

Das mit Laiendarstellern besetzte Drama erzählt vom schmerzhaften Ende der Kindheit und von der beeindruckenden Überlebensintelligenz einer jungen Frau, die sich plötzlich in der Absurdität der Arbeitswelt und der Rolle der alleinerziehenden Mutter eines kleinen Sohnes (Ethan Jonckeere) wiederfindet. Schauplätze wie die wilde bretonische Küste und das halbverfallene Haus von Leo und Milla sind zwar naturalistisch gezeichnet. Massadian gelingt es aber gleichzeitig meisterhaft, den Orten in ihren atemberaubenden Bildern etwas Zauberhaftes zu verleihen. Im Kino geht es Massadian ganz klar um die Verklärung, die „Poetisierung der Wirklichkeit“.

Die Freiheit des filmischen Blickes
So tragisch die Geschichte des jungen Paares verläuft, so wenig Interesse hat der Film dennoch am Drama. „Meine Beziehung zum Drama ist eher russisch – es geht vor allem um das Aushalten“, sagt Massadian, die ihr Werk bei der Französischen Filmwoche Berlin persönlich vorstellte. Wichtig sei ihr beim Erzählen vor allem der Respekt vor den Personen und die Freiheit des Blickes.

Auch darum sucht die Filmemacherin grundsätzlich Darsteller, die keine Schauspieler sind. Severine Jonckeere und ihren kleinen Sohn entdeckte sie in einem Heim für alleinerziehende Mütter. Dass die Laienschauspielerin ihrer Figur trotz der Schicksalsschläge etwas sehr Stetes verleiht, ist keineswegs ein Manko, sondern betont die Zähigkeit von Milla. Für Abwechslung sorgt Massadian auf anderem Weg: durch unerwartete künstliche Momente etwa. So stößt Milla während ihrer Putzschicht in dem immer verlassen wirkenden Hotel auf ein Musikerduo, das den Song „Why Can’t I Get Just One Kiss?!“ der amerikanischen Punkband Violent Femmes performt. Das Surreale ist im jungen französischen Kino selten – Massadian jedoch weiß es für ihre Zwecke grandios zu nutzen.

„Jedes Haus erzählt etwas“
Es sind aber auch die leisen Aspekte – kleine Details in den verschiedenen Wohnungen und dem Hotel etwa – die die Aufmerksamkeit des Zuschauers gekonnt zu fesseln wissen. „Jedes Haus erzählt etwas, und ich hänge sehr an den kleinen Dingen“, meint die Regisseurin. Der Zuschauer muss also aufmerksam sein. Lässt er sich nicht auf die Details, die berauschenden Farben und die langen Einstellungen ein, kann der mehr als zwei Stunden lange Film zäh werden. Doch es ist gerade der formelle Eigensinn und die Langsamkeit des Werkes, die fesseln. Trotz des knappen Budgets, das Massadian dafür zur Verfügung hatte. Liebe kann man nicht mit Geld kaufen, lehrt die Geschichte hinter Milla. Und Talent offenbar auch nicht.



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„Milla“ erzählt die Geschichte zweier ungleicher Ausreißer, die sich ohne Geld - aber verliebt und voller Lebenslust - durchschlagen. Das naturalistische Porträt einer jungen Frau zeigt in atemberaubenden Aufnahmen und mit Liebe zum Detail das Leben als täglichen Kampf, die wunderbare wie gewaltsame Übergewalt der Natur und die Kraft der Liebe. Die Energie erwächst hier nicht aus dem überzogenen Dramatischen, sondern aus der feinen Poetisierung der Wirklichkeit.
8
von 10