„1000 Arten Regen zu beschreiben“, Deutschland, 2017
Regie: Isabel Prahl; Drehbuch: Karin Kaci; Musik: Volker Bertelmann
Darsteller: Bibiana Beglau, Bjarne Mädel, Emma Bading, Louis Hofmann, Janina Fautz
Irgendwann beschloss der 18-jährige Mike, nicht mehr aus seinem Zimmer zu kommen. Einfach so. Seine Familie ist ratlos, versucht alles Mögliche, um ihn wieder herauszulocken. Doch egal, was sie auch tun, was sie auch versuchen, Mike hat sich eingeschlossen, kommt nur heraus, wenn keiner da ist. Während sein Vater Thomas (Bjarne Mädel) sich in die Arbeit stürzt, verbringt seine Mutter Susanne (Bibiana Beglau) viel Zeit mit Oliver (Louis Hofmann), der früher der beste Freund von Mike war. Seine Schwester Miriam (Emma Bading) hat ihrerseits ganz eigene Sorgen, mit denen sie fertigwerden muss.
„Hikikomori“ lautet das Phänomen, dass sich erwachsene Menschen immer weiter aus der Gesellschaft zurückziehen, bis hin zur vollständigen Isolation. Geprägt wurde der Begriff 1998 durch den japanischen Psychologen Tamaki Saitō, der damit ein in seinem Heimatland weit verbreitetes Problem beschreiben wollte. Wie weit verbreitet es ist, darüber streiten die Experten: Zwischen 540.000 und 1,6 Millionen schwanken aktuelle Schätzungen. Die Scham der Familie, darüber zu reden, trägt zu der hohen Dunkelziffer bei. Ebenso, dass es sich um einen schleichenden Prozess handelt und es verschieden starke Ausprägungen dieses Rückzugs gibt. Auch wenn vor allem Japan dafür bekannt ist, bedingt unter anderem durch den hohen Leistungsdruck in der Gesellschaft, sind Beispiele in anderen Ländern auf der ganzen Welt bekannt.
Ein Drama ohne Erklärungen
Ein solches Beispiel stellt 1000 Arten Regen zu beschreiben vor, der diese Woche seine Deutschland-Premiere auf dem Filmfest Max Ophüls Preis feiert, bevor zwei Monate später der reguläre Kinostart ansteht. Zum Teil zumindest. An der Theorie des Hikikomori ist das deutsche Drama nicht interessiert, es fällt auch zu keiner Zeit der Begriff. Vor allem aber braucht das Publikum nicht auf eine schlüssige Erklärung des Phänomens zu hoffen, weder allgemein, noch in diesem speziellen Fall. Mike bleibt ein Fremder. Ein junger Mensch, der eines Tages spurlos in seinem Zimmer verschwand, ohne irgendjemandem seine Gründe zu verraten.
Wer sich von 1000 Arten Regen zu beschreiben die schlüssige Durchleuchtung eines solchen Rückzugs erhofft, eine tränenreiche Happy-End-Auflösung, in der alle Probleme beseitigt werden, der sitzt hier im falschen Film. Drehbuchautorin Karin Kaci verweigert sich einfacher Antworten, verweigert uns den vielleicht erhofften Einblick in eine gestörte Seele. Stattdessen richtet sie ihren Blick auf das Umfeld des Eremiten. Die Familie. Wie gehen sie mit der Situation um? Wie soll man überhaupt mit der Situation umgehen, wenn ein geliebter Mensch plötzlich vor deinen Augen verschwindet?
So nah und doch so fern
Das erinnert ein wenig an die vielen Dramen, in denen eine Familie einen Todesfall verkraften muss. Dass es Mike immer noch gibt, er nur durch eine Tür von den anderen getrennt ist, stellt sich als Fluch und Segen gleichermaßen heraus. Die Hoffnung, dass er eines Tages wieder herauskommt, gekoppelt mit dem Frust, dass er es eben nicht tut – 1000 Arten Regen zu beschreiben zeigt uns Menschen, die durch das Warten auf den Gefangenen selbst zu Gefangenen wurden. Die auf ihre Weise die Flucht vor Schmerz und Situation versuchen und doch nie sehr weit kommen.
Das ist traurig, keine Frage. Der Schmerz der Eltern, die Sehnsucht nach Antworten, all das lässt sich hier spüren, miterleben, mitleiden. Auch die kleinen Zwischensequenzen und Lebenszeichen, die dem Drama seinen Titel geben, vereinen Poesie und Melancholie. Und doch ist 1000 Arten Regen zu beschreiben auf seine Weise ein lebensbejahender Film. Denn er handelt eben auch davon, das Leben anzunehmen. Die Menschen anzunehmen. Davon wieder loslassen zu können, selbst wenn es noch so schwerfällt und man nicht weiß, warum man denn nun loslassen muss.
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