„Tony Conrad – Completely in the Present“, USA, 2016
Regie: Tyler Hubby; Drehbuch: Tyler Hubby; Musik: Tony Conrad
„Wundervoll, einfach wundervoll“: Ein etwas kauziger, aber charmanter, älterer Herr steht mit fünf Richtmikrofonen in New Yorks Lower Eastside, um „die Atmosphäre dieser Gegend einzufangen, hier wo alles begann, die Aufnahmen zu The Flicker, der Schnitt von Flaming Creatures und die Gründung von The Velvet Underground. Eine ungewöhnliche, einnehmende Aura aus schelmischer Verschmitztheit und unheimlicher Intelligenz umgibt Tony Conrad, den experimentellen Filmemacher, Erfinder des Drone Sounds, Performancekünstler, Dozent und Schriftsteller, bei allem was er tut.
Mit diebischer Freude erzählt er Anekdoten aus den 60ern, als er mit John Cale und Lou Reed auf der Bühne stand, die Gitarrenseiten alle gleich gestimmt, damit sein Mangel an Können nicht zu sehr auffiel. Oder von der Spaltung des Publikums bei der Uraufführung von The Flicker, einer rasanten Abfolge ausschließlich schwarzer und weißer Bilder: Während sich die einen vollkommen unbeeindruckt von dem stroboskopartigen Geflacker langweilten, entstanden für andere unterschiedlichste Muster und Farben vor dem geistigen Auge, einige Zuschauer übergaben sich und erlitten epileptische Anfälle.
Grenzen ausloten, Autoritäten in Frage stellen, Reaktionen provozieren
Regisseur Tyler Hubby tut gut daran, Conrads multimediales Werk vom Künstler selbst präsentieren zu lassen. Die Dokumentation Tony Conrad – Completely in the Present erschafft ein mediales Spiegelkabinett aus Musik- und Videoaufnahmen, das in seiner Chronologie das Oeuvre ironisch bricht und deskonstruiert: Als Mitglied der experimentellen Musikgruppe The Dream Syndicate versuchte Conrad durch die Fokussierung auf einen einzigen Ton, der für Stunden gehalten wurde, den Komponisten an sich zu eliminieren, was verrückterweise in einem Urheberrechtsstreit mit La Monte Young gipfelte. Young, selbst Teil des Künstlerkollektivs, verweigerte Jahre später die Herausgabe des damals aufgenommenen Materials und reklamierte die Komponistenrechte für sich, doch Conrad und die anderen Musiker bekamen Recht: Die nervenzehrenden Tonstudien von 1965 wurden 2000 als „Inside the Dream Syndicate“ veröffentlicht.
Mediale Grenzen hinter sich lassen
Ohne jegliche Scheu vor Genregrenzen nutzte Conrad Musik, Film, Malerei und Konzeptkunst für seine avantgardistischen Projekte, die so unkonventionell waren wie seine Lehrmethoden an der University of Buffalo, mit denen er „den Leuten wenigstens beibringen konnte, wie sie nicht produktiv arbeiten“: Zelluloid, pochiert, eingekocht, mariniert und in Einmachgläsern ausgestellt; diese hauswirtschaftliche Herangehensweise ans „Filme machen“ dokumentiert seine Videoarbeit Pickled Film. Mit Yellow Movie deutet er stattdessen ein Stück Wand und seine zeitliche Veränderung zum längsten Film der Welt um und brachte MoMa-Direktor Philippe Vergne in Erklärungsnot: Wenn dieses filmische Werk so bedeutend wäre, wollte die Ankaufskommission wissen, warum sei es dann so billig.
Und schlussendlich nutzt er die Macht der Massenmedien, um den Massen die Medien zurückzugeben: In seinem Projekt „Studio of the Streets“ befragte er wahllos Menschen vor Buffalo Citys Rathaus nach ihren aktuellen Gedanken, Gefühlen, Ideen. Die Aufnahmen der überraschenden Einfälle zeugen von Authentizität, aber im gleichen Maß auch von Künstlichkeit, ein Dualismus, der Conrads anarchistischer Kunst inhärent ist, ihren Humor und ihre Dynamik ausmacht. Dabei sind seine Arbeiten mal politisch explizit, mal minimalistisch-abstrakt.
Hubby, der seit 1994 Tony Conrad mit der Kamera begleitet hat, schafft dadurch eine Nähe, die er mit vielen Anekdoten von Zeitzeugen, Freunden und Bewunderern wie Jeff Hunt, Moby, Tony Oursler und Jennifer Walshe zu einem gelungenen und sehenswerten Künstlerporträt verquickt. Eine Dokumentation, die sein Objekt zum Subjekt macht, und damit weitaus authentischer und angemessener als ein extravagantes Denkmal, wie es Pappi Corsicato seinem engen Freund Julian Schnabel in Julian Schnabel: A Private Portrait setzt.
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