„Das schweigende Klassenzimmer“, Deutschland, 2018
Regie: Lars Kraume; Drehbuch: Lars Kraume; Vorlage: Dietrich Garstka; Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas
Darsteller: Leonard Scheicher, Tom Gramenz, Lena Klemke, Isaiah Michaelski, Jonas Dassler, Florian Lukas, Burghart Klaußner, Ronald Zehrfeld, Jördis Triebel, Michael Gwisdek, Max Hopp
Eigentlich waren die Abiturienten Theo (Leonard Scheicher) und Kurt (Tom Gramenz) 1956 nur deshalb nach Westberlin geschlichen, um sich heimlich einen Kinofilm anzuschauen. Noch viel mehr beeindruckt sie aber die Meldung der Wochenschau, dass die Ungarn gegen die russische Besatzung protestieren und es zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen sein soll. Aus Zeichen der Solidarität beschließen sie, zusammen mit Lena (Anna Lena Klemke), Paul (Isaiah Michaelski) und dem Rest ihrer Klasse eine Schweigeminute einzulegen. Was eigentlich nur eine kleine Protestaktion hätte sein sollen, dreht aber immer größere Kreise, bis sich sogar Volksbildungsminister Lange (Burghart Klaußner) in die Untersuchung einmischt. Die Forderung ist klar: Entweder liefert die Klasse einen Verantwortlichen aus oder sie wird landesweit vom Abitur ausgeschlossen.
Auch wenn der Name vielen nichts sagen dürfte, so ist Lars Kraume doch sicher einer der momentan spannendsten Regisseure Deutschland. Spannend deshalb, weil man nie so genau sagen kann, was er als nächstes machen wird. Er dreht amüsant-banale Krimikomödien (Der König von Berlin), mäßige TV-Thriller (Dengler – Die schützende Hand), packt gleichzeitig aber auch immer wieder moralisch (Terror – Ihr Urteil) oder historisch (Der Staat gegen Fritz Bauer) glühende Eisen an, die weit über das übliche Gefälligkeitskino hinausgehen. In die letzte Kategorie fällt dann auch sein neuester Film, der sich einer wahren Geschichte annimmt, diesen dramaturgisch zuspitzt und einen der sehenswertesten Beiträge der letzten Zeit zum Thema Solidarität geschaffen hat.
Das Private und das Politische
Als die realen Schüler von 1956 eine Schweigeminute einlegten, dann war das lediglich, um dem getöteten ungarischen Nationalspieler Ference Puskás zu gedenken. In Das schweigende Klassenzimmer, welches seine Weltpremiere auf der Berlinale 2018 feierte, ist dieses Motiv auch noch da, vermischt sich aber von Anfang an mit einem politischen: Theo und Kurt sind die ständige Anwesenheit der Russen leid und die Einschränkungen des Sozialismus. Warum darf man nicht ins Kino gehen, um sich leicht bekleidete Frauen anzuschauen? Individueller Freiheitsdrang und grundsätzliche Lebenskonzepte kommen an dieser Stelle zusammen, wo das eine anfängt und das andere aufhört, ist nicht immer klar zu sagen.
Da wurde der zugrundeliegenden Geschichte natürlich einiges angedichtet oder ausgeschmückt. Aber das ist in diesem Fall kein Nachteil. Anders als so mancher Film, der sich wichtiger Grundsatzfragen annimmt (Eye in the Sky), zieht Kraume seine Version des Vorfalls anhand von Individuen auf. Das ist dann alles sehr viel weniger eindeutig, als es zunächst erscheint. Auch wenn Theo und Kurt beide gegen die Besatzung aufbegehren, so tun sie das doch auf unterschiedliche Weisen und aus unterschiedlichen Gründen – der eine will das Wohl für alle, der andere einfach nur für sich. Die internen Konflikte des Klassenzimmers werden auf diese weise spürbar.
Nicht immer subtil, aber intensiv
An manchen Stellen macht es sich Kraume dann zwar schon ein bisschen einfach, nimmt mittels Wendungen oder einem plötzlichen Sinneswandel eine Abkürzung. Auch Pathos und die damit einhergehende Musik darf nicht fehlen. Es fehlt bei Das schweigende Klassenzimmer dafür etwas der Mut, dem Publikum Entscheidungen auch selbst zu überlassen. Da wird lieber noch einmal etwas ganz ausformuliert, zur Sicherheit, damit auch der letzte versteht, was wie gemeint war. Diese kleineren Anlässe zum Ärger bleiben aber glücklicherweise in der Minderheit. Durch die sich kontinuierlich verschiebenden Allianzen und die größer werdenden Konsequenzen, gewinnt Das schweigende Klassenzimmer mit der Zeit eine unglaubliche Intensität. Wie viel bin ich bereit, für eine gute Sache zu opfern? Was bedeutet es, solidarisch mit anderen zu sein? Sind Wildfremde, gerade in einem anderen Land, es wert, die eigene Zukunft wegzuwerfen?
Zudem gibt es noch interessante Gedankenspiele über die Unabhängigkeit von Berichterstattung. Westliche und östliche Medien schildern dieselben Vorkommnisse auf völlig unterschiedliche Weisen – ausgeliefert sind wir an beide, können weder die einen, noch die anderen überprüfen. Das Thema wird zwar relativ schnell wieder fallengelassen. Durchgängig überzeugend sind dafür die Darsteller. Die Nachwuchsschauspieler begeistern durch ihr großes Charisma, Jördis Triebel (Die vierte Gewalt, Ich und Kaminski) durch ihr Wechselspiel von freundlich zu eiskalt. Denn auch das zeichnet dieses historische Drama aus: Es führt vor Augen, mit welch perfiden Mitteln der Zusammenhalt aufgelöst werden sollte. Der Gedanke der Freundschaft, die als Begrüßung herhält, er bedeutet in erster Linie, Menschen gegeneinander auszuspielen, um selbst an der Macht zu bleiben. Und das macht diese inzwischen über sechzig Jahre alte Geschichte immer noch erschreckend aktuell.
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