„Ang Babaeng Humayo“, Philippinen, 2016
Regie: Lav Diaz; Drehbuch: Lav Diaz
Darsteller: Charo Santos-Concio
30 Jahre, das ist eine lange Zeit. Besonders lang sogar, wenn man sie unschuldig im Gefängnis verbringen muss. Mord lautete seinerzeit die Anklage, die Horacia (Charo Santos-Concio) hinter Gitter brachte. Die Beweise waren eindeutig, so hieß es damals zumindest. Bis jetzt neue auftauchten, welche die Unschuld von Horacia belegten. Aus der Haft entlassen muss sie jedoch feststellen, dass die Welt nicht mehr die ist, die sie kannte. Ihr Mann ist zwischenzeitlich verstorben, ihr Sohn verschwunden. Nur ihre Tochter ist noch da. Aber auch für die anderen Bewohner der Philippinen ist der Alltag hart geworden: Armut, Gewalt, vor allem die ständigen Entführungen. Und so begegnet Horacia den unterschiedlichsten Menschen und ihren Problemen, während sie sich auf die Suche nach dem wahren Täter macht.
Größer, schneller, weiter … und länger. Dass die Filme von heute sich oft nicht mehr mit der Laufzeit von früher zufriedengeben, ist kein Geheimnis. Blockbuster unter zwei Stunden? Sind ausverkauft. Selbst zweieinhalb Stunden sind keine Seltenheit mehr. Über diese Entwicklung darf man geteilter Meinung sein, nicht jeder ist glücklich damit, dass immer mehr Zeit investiert werden muss, um eine Geschichte zu hören. Wem das normale Kino bereits zu viel ist, der sollte sich von Lav Diaz fernhalten. Der philippinische Filmemacher ist berüchtigt dafür, dass er jede Minute und Stunde auskostet. Und von denen gibt es bei ihm eine ganze Menge.
Ein Film außerhalb der Filmgesetze
Fast vier Stunden dauert The Woman Who Left. Für den Regisseur und Drehbuchautor ist das an und für sich bescheiden, sein vorangegangenes Werk A Lullaby to the Sorrowful Mystery dauerte noch acht Stunden. Für den normalen Kinogänger mit einer durchschnittlichen Aufmerksamkeitsspanne und einer durchschnittlich ausgebildeten Blase bedeutet dies aber einen ziemlichen Kraftakt. Umso mehr, da Diaz sich viel Zeit für wenig Inhalt lässt. Man könnte die eigentliche Geschichte in nur wenigen Sätzen erzählen, die Handlung ist mehr als spärlich. Doch sich darüber zu beklagen, würde dem Film als solchen nicht gerecht werden, der ganz offensichtlich auf etwas anderes abzielt.
Wer mit Diaz dessen Heimatland erkundet, der taucht ein in einen Kosmos, der nah an den Menschen ist und doch irgendwie losgelöst vom hier und jetzt. Das betrifft das Setting, welches 1997 angelegt ist. Das betrifft die Bilder, völlig in Schwarzweiß gehalten, zu kunstvoll komponiert mit vielen Totalen, vielen starren Einstellungen, bei denen man schon sehr genau hinsehen muss, um die sich bewegenden Elemente zu entdecken. Wie ein monumentaler Bildband. Viele der Aufnahmen, die wie alle anderen Aspekte von Diaz selbst stammen, könnte man sich ohne weiteres auch als Poster in den eigenen vier Wänden vorstellen.
Ausflug in die Nacht
Eine gewisse Vorliebe für die Dunkelheit sollte man da aber schon mitbringen. Nicht nur dass viele Szenen auf nächtlichen Straßen oder in schummerigen Räumen spielen. Auch atmosphärisch mutet einem The Woman Who Left einiges zu. Vor dem Hintergrund der täglichen Entführungen, an die uns Radio, Fernsehen und Plakate erinnern, folgen wir Menschen, denen das Schicksal größtenteils übel mitgespielt hat. Wie eben Horacia. Oder auch anderen Kreaturen der Nacht, denen sie über den Weg läuft. Doch sie sind nicht allein. Andere lenken meist aus dem Off das Geschehen, aus den Schatten. Die Mächtigen. Die Brutalen.
Diaz zeigt uns eine Welt, in der es wenig Raum für Hoffnung gibt. Dass beispielsweise der Tod von Mutter Theresa innerhalb dieser finsteren Aussichten zur Sprache kommt, das ist ein nicht unbedingt subtiles Symbol. Und doch handelt The Woman Who Left eben nicht nur von Gewalt und Betrug, von Rache und Schmerz. Die Begegnungen von Horacio, sie finden mitten in der Nacht kleine Leuchtpunkte. Beispiele für Mitgefühl, für Menschlichkeit. Das epische und dabei so schlichte, teils dokumentarische Drama, es erzählt vom Verlassen, Suchen und Verschwinden. Aber eben auch davon, wieder anzukommen, zurückzukommen, seinen Platz in einer Welt zu haben, die sich für die meisten nicht interessiert.
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