„You Were Never Really Here“, UK/Frankreich/USA, 2017
Regie: Lynne Ramsay; Drehbuch: Lynne Ramsay; Vorlage: Jonathan Ames; Musik: Jonny Greenwood
Darsteller: Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov
Erfahrungen mit Gewalt hat Joe (Joaquin Phoenix) mehr als genug gesammelt, als Soldat im Krieg, als Agent beim FBI. So viele Erfahrungen, dass er sie bis heute kaum verarbeitet hat. Aber auch beruflich kommt er nicht von ihr los. Der Unterschied: Er arbeitet jetzt als Privatmann, lässt sich für schmutzige Jobs anheuern. Das gilt auch für seinen aktuellen Auftrag. Nina (Ekaterina Samsonov), die Tochter eines Senators, soll entführt und an Sexhändler verkauft worden sein. Also macht sich Joe auf den Weg, zu allem bereit. Aber selbst ein Veteran wie er ist nicht darauf vorbereitet, was ihn als nächstes erwartet …
Sechs Jahre Pause, das ist schon eine ganze Menge in Hollywood. Wer in einem derart schnelllebigen Business unterwegs ist, der riskiert, auf diese Weise in Vergessenheit zu geraten. Außer natürlich man heißt Lynne Ramsay und hat vor dieser Pause We Need to Talk About Kevin gedreht, ein alptraumhaftes Familiendrama, das so sehr durch Mark und Bein geht, dass man es im Anschluss kaum je wieder vergessen wird. Ob man nun will oder nicht.
Weniger und mehr als ein gewöhnlicher Thriller
Gleiches gilt auch für A Beautiful Day, mit dem sich die Regisseurin und Drehbuchautorin letztes Jahr in Cannes eindrucksvoll zurückmeldete, nachdem zuvor andere Projekte gescheitert waren. Sieben Minuten Beifall soll es bei der Premiere gegeben haben. Das ist eine Menge. Es ist vor allem dann eine Menge, wenn sieben Minuten dicke reichen, um die Handlung des Films wiederzugeben. Denn die Adaption der Novelle You Were Never Really Here von Jonathan Ames mag sich zunächst wie ein typischer Ex-Soldat-Actionstreifen anhören. Doch sie ist in Wahrheit nur das bloße Skelett eines solchen Films. Und gleichzeitig sehr viel mehr.
Der Aufbau des Films ist dabei noch vergleichsweise klassisch. Wir lernen am Anfang den Helden kennen. Als nächstes folgt der Auftrag, der er pflichtbewusst erfüllt. Kurze Zeit später erfahren wir jedoch, dass der Job nur ein kleiner Teil der Geschichte ist, dass da noch viel mehr dahintersteckt, eine richtig fette Verschwörung. Also muss er noch mal los, um in einem großen Showdown wieder Gerechtigkeit herzustellen. All das trifft auf A Beautiful Day zu und trifft doch nicht einmal ansatzweise das, was Ramsay hier gedreht hat.
Der Held, der aus der Gosse kam
Zunächst einmal wäre da die Sache mit dem Helden. Sicher, in den letzten Jahren hat es sich herumgesprochen, dass Protagonisten solcher Geschichten auch mal mit eigenen kleinen Abgründen kämpfen dürfen. Vor allem im skandinavischen Kino kommt ja kaum ein Genrebeitrag mehr ohne versoffene Cops mit Eheproblemen aus. Und doch sind das nur die Vorboten für das, was A Beautiful Day uns hier vorsetzt. Joe ist so traumatisiert, dass er – und das Publikum – regelmäßig in surrealen Albträumen badet oder sich selbst geißelt. Er sieht noch nicht einmal so aus wie ein Held. Der mehrfach oscarnominierte Edelmime Joaquin Phoenix (The Master) verkommt hier zu einem grob gehauenen Schrank, der in der Gosse verrottet. Weggeworfen, zerstört und brutal intensiv.
Und auch die Geschichte weigert sich, die Wege zu beschreiten, die der Film immer wieder vortäuscht. Dabei ist es nicht einmal so, dass der Beitrag der Fantasy Filmfest White Nights 2018 so wahnsinnig viele Wendungen hätte. Eigentlich gibt es nur eine. Die ist dafür umso verstörender. Und selbst für die interessiert sich Ramsay kaum. Sie wird ganz nebenbei erwähnt, anschließend gleich wieder fallengelassen. Aber das ist noch harmlos im Vergleich zu der Radikalität, mit der sie zum Ende allen Erwartungen den Kopf abschlägt. Oder andere Körperteile. Zu sehen gibt es dabei genug, selbst wenn gerade nichts zu sehen ist. Und auch zu hören. Was die Amerikanerin aus der simplen Geschichte audiovisuell gemacht hat, verschlägt einem den Atem. Ungewöhnliche Perspektiven, grausame Bilder mit Sinn fürs Detail, ein hypnotischer Soundtrack, dazu ein Sound Design, das nicht von dieser Welt ist. A Beautiful Day ist ein Monster von einem Film, das sich so tief ins Gedächtnis frisst, dass es selbst dann doch darin zu finden sein wird, falls sich Ramsay beim nächsten Mal wieder sechs Jahre Zeit lassen sollte.
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