„Secuestro“, Spanien, 2016
Regie: Mar Targarona; Drehbuch: Oriol Paulo; Musik: Marc Vaíllo
Darsteller: Blanca Portillo, Marc Domènech, Andrés Herrera, Antonio Dechent
Es hätte eigentlich ein Tag des Triumphs für Patricia (Blanca Portillo) werden sollen. Gerade hat es die Rechtsanwältin geschafft, einen wichtigen Mandanten vor Gericht freizuboxen, da erhält sie eine erschütternde Nachricht. Ihr gehörloser Sohn Victor (Marc Domènech) wurde mitten auf der Straße aufgelesen, blutverschmiert und befindet sich nun in der Obhut der Polizei. Er sei entführt worden, sagt der Junge nach viel Zureden, habe es aber geschafft zu entkommen. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden, der vorbestrafte Kleinkriminelle Charlie (Andrés Herrera). Doch der beteuert seine Unschuld, Beweise gibt es auch keine. Für Patricia steht damit fest: Sie muss die Sache selbst in die Hand nehmen …
Freunde kriminologischer Mindfucks haben in den letzten Jahren den spanischen Filmemacher Oriol Paulo zu schätzen gelernt: Mit The Body – Die Leiche und Der unsichtbare Gast lieferte er zwei wendungsreiche Thriller ab, die weit über die Genre-Fankreise hinaus von sich reden machten. Letzterer war sogar in Fernost ein Überraschungshit, hielt sich in China und Südkorea mehrere Wochen in den Top 10. Während der einfallsreiche Geschichtenerzähler derzeit mit seinem Science-Fiction-Werk Mirage beschäftigt ist, trudelt ein weiterer Film des Südeuropäers ein. Bei Boy Missing beschränkte er sich jedoch auf das Schreiben des Drehbuchs, den Regiestuhl bot er galant Kollegin Mar Targarona an, die sonst eigentlich vor allem als Produzentin tätig ist.
Wendungen für Genreeinsteiger
Dass Paulo hier seine Finger mit ihm Spiel hat, ist jedoch unverkennbar. Was als glasklarer Entführungsthriller beginnt, entwickelt sich in eine etwas andere Richtung weiter. Nichts ist so eindeutig, wie es zunächst erscheint. Allerdings leidet Boy Missing, alternativ auch unter dem Titel Secuestro – Selbstjustiz einer Mutter bekannt, dann doch durch die unvermeidlichen Vergleiche zu den oben genannten Filmen. Ja, es gibt sie, die Wendungen. Die Momente, die alles auf den Kopf stellen. Wer diese allerdings erwartet, der wird keine ernstzunehmenden Schwierigkeiten haben, sie hier schon im Vorfeld zu erraten. Viel zu früh lässt sich Targarona in die Karten schauen. Der große Knalleffekt bei der Enthüllung bleibt aus, auch weil zu viel Zeit vergeht, in der wir auf das Unvermeidliche warten.
Was Boy Missing an Spannung fehlt, das macht er aber zumindest zum Teil durch die Figuren wieder wett. Gerade Blanca Portillo bereitet doch recht viel Vergnügen als Frau, die keine großen Skrupel kennt bei der Verfolgung ihrer Ziele – sei es als Rechtsanwältin oder als Mutter. Während Entführungsthriller meistens mit sympathischen Protagonisten arbeiten, die dazu einladen, mit ihnen zu fühlen und mitzuzittern, so ist das hier ein wenig anders. Denn bei allem Verständnis dafür, ihren Sohn schützen zu wollen, als Vorbildfunktion dient die Erfolgsfrau selten.
Start, Ziel, Ende
Auch das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist ganz schön gelöst, wenngleich der Aspekt des fehlenden Gehörs allenfalls ein Mittel zum Zweck ist, aber nie so richtig in die Geschichte integriert wird. Für einen Paulo-Film ist das schon erstaunlich, da sich der Spanier eigentlich darauf versteht, viele einzelne Zahnräder ineinandergreifen zu lassen. Normalerweise geschieht da nichts ohne einen Hintergedanken. Aber auch vom Ablauf her ist Boy Missing geradliniger und einfacher als die anderen Werke. Hier gibt es keine großen Flashbacks oder Parallelerzählungen, das Publikum ist eigentlich immer im Bilde, was gerade geschieht. Doch trotz dieser relativen Schwäche, Spaß macht auch dieser Thriller. Und wer nicht mit der Erwartung drangeht, dass sowieso alles ganz anders kommt, der sieht hier sogar eine der interessanten Entführungsgeschichten der letzten Zeit.
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