„Er sie ich“, Deutschland, 2017
Regie: Carlotta Kittel
Wir kennen das ja alle. Wenn zwei Menschen ein Erlebnis teilen, dann teilen sie nicht automatisch dieselbe Erinnerung daran. Jeder nimmt Situationen unterschiedlich wahr, beurteilt sie unterschiedlich, fügt auf seine Weise Details hinzu oder lässt sie weg – aus den unterschiedlichsten Gründen. Auch Filme haben dieses Phänomen immer mal wieder aufgegriffen. Rashomon von Akira Kurosawa ist eines der bekanntesten Beispiele, wie eine Szene mehrfach erzählt wird und durch die Perspektivenwechsel innerhalb der beteiligten Personen zu etwas komplett Neuem wird. Ein aktuelleres Beispiel ist Porto, in der zwei Menschen eine gemeinsame Romanze komplett unterschiedlich wahrnehmen. So unterschiedlich, dass nicht einmal mehr sicher ist, ob es denn überhaupt eine Romanze war.
Er Sie Ich geht hier in eine ganz ähnliche Richtung. Auch hier erzählen zwei Menschen von ihrer ersten Begegnung über die gemeinsame Zeit bis zu den Nachwehen, Jahrzehnte später. Der Unterschied: Er Sie Ich ist ein Dokumentarfilm. Ein sehr persönlicher Dokumentarfilm sogar. Regisseurin Carlotta Kittel befragte hier nicht irgendwelche wildfremden Menschen, sondern ihre eigenen Eltern. Die hatten sich damals vor ihrer Geburt bereits voneinander getrennt, stehen sich heute gleichgültig bis feindselig gegenüber. Aber warum eigentlich? Was ist da genau vorgefallen?
Ein Dialog in Abwesenheit
Der Clou an der Geschichte: Kittel befragt ihre Eltern nicht einfach nur nach ihrer jeweiligen Sicht der Dinge. Das – so schimmert hier durch –, hat sie schon zuvor immer mal wieder versucht. Ohne großen Erfolg. Stattdessen zeichnet sie die Gespräche auf und gibt sie an den jeweils anderen weiter. Konfrontiert mit einer Perspektive, die sie nicht teilen, mit Erinnerungen, die sie selbst nicht haben, fühlen sich Vater und Mutter genötigt, doch noch auf die Aussagen des anderen einzugehen. Dadurch entsteht eine Art Dialog, wenn auch zeitversetzt. Schweigen ist keine Option mehr, schließlich will jeder, dass Tochter Carlotta die „richtige“ Version kennt.
Das wäre schon als reines Experiment interessant gewesen. Wie gehen Menschen damit um, wenn eigene Erinnerungen infrage gestellt werden? Kann es einen Austausch geben, obwohl die beiden Gesprächspartner nie direkt miteinander sprechen? Fürs Auge bietet Er Sie Ich hingegen nur wenig. Ein Großteil der Doku besteht aus Vater und Mutter, wie sie auf der Couch sitzen und in die Kamera reden. Kleinere Änderungen in Mimik und Körpersprache – ausgelöst durch Empörung oder Trauer –, das ist die Abwechslung, mit der man sich als Zuschauer zufriedengeben muss. Aber das wird schnell zur Nebensache, es ist der Inhalt, auf den es dabei ankommt.
Das Leben hat nicht immer Antworten
Eine endgültige Antwort erhält Kittel bei diesem sehr persönlichen Versuch nicht. Ob sie diese erwartet hat, ist nicht klar, auch nicht, was sie sich allgemein von dem Projekt versprach. Sie tritt lediglich als Fragenstellerin auf, hält sich meistens aus der Diskussion heraus – was manchmal sichtlich schwierig ist. Schwierig für den Zuschauer wird es vereinzelt ebenfalls, wenn der Beitrag vom DOK.fest München 2017 auf unangenehme Weise privat wird. Die Doku daran erinnert, dass sie zwar als Experiment funktioniert, letztendlich aber doch tief in das Leben einer (gescheiterten) Familie hineinblickt. Nicht jeder ist gern als Voyeur dabei, wenn schmutzige Wäsche gewaschen wird. Diese kleinen Irritationen sind glücklicherweise jedoch schnell vergessen, auch als Unbeteiligter hört man gespannt zu, wie von einer Beziehung gesprochen wird, die vielleicht nie eine gewesen ist.
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