„Insyriated“, Belgien/Frankreich/Libanon, 2017
Regie: Philippe Van Leeuw; Drehbuch: Philippe Van Leeuw; Musik: Jean-Luc Fafchamps
Darsteller: Hiam Abbass, Mohsen Abbas, Juliette Navism, Alissar Kaghadou, Diamand Abou Abboud, Elias Khatter
Der syrische Bürgerkrieg ist im vollen Gange. Kämpfe und Gewalt sind allgegenwärtig, die Straßen sind gesperrt, wer kann, hat längst die Stadt verlassen. Oum Yazan (Hiam Abbass) ist aber noch immer da, hat sich mit ihren drei Kindern und einer Gruppe von Menschen in ihrem Haus verbarrikadiert. Nur selten wagen sie sich noch hinaus. Auch die Vorhänge sind ständig zugezogen – zu groß ist die Furcht vor den Scharfschützen, die da draußen auf ihre Opfer warten. Da beobachtet die Haushaltshilfe Delhani (Juliette Navis), wie direkt vor dem Eingang der Mann von Halima (Diamand Abou Abboud) erschossen wird, die ebenfalls in dem Gebäude wohnen. Aber wie wollen sie das der jungen Mutter beibringen, ohne dabei die restlichen Bewohner in Gefahr zu bringen?
Ach ja, Syrien. So lange dauert der Krieg schon an, so oft war die Berichterstattung durch die internationalen Konflikte der Teilnehmer überschattet, dass man schnell vergisst, was das eigentlich bedeutet: Krieg. Innen Leben führt uns die gerne mal verdrängte humanitäre Katastrophe wieder vor Augen – auf eine ebenso ungewöhnliche wie eindrucksvolle Weise. Hier kämpfen keine aufrechten Soldaten. Keine Rebellen. Genauer zeigt der Film keine einzige traditionelle Kampfszene, sondern konzentriert sich auf eine Gruppe von Zivilisten, die inmitten von Explosionen und Terror ein normales Leben zu führen versuchen.
Zwischen Krieg und Alltag
Der überwiegende Teil des Films spielt dabei in einer einzigen Wohnung. Nur selten wagen wir den Blick nach draußen, auf den Hof, andere Häuser. Zu sehen ist deshalb in Innen Leben auch nur wenig. Es hat sogar eine leicht surreale Note, wenn sich die Bewohner über alltägliche Dinge streiten – wer darf das Bad als erstes nutzen? – während draußen Schüsse fallen, jeder Moment der letzte sein könnte. Der Film handelt nicht einfach nur vom Krieg. Er handelt davon, in einem Krieg noch Mensch bleiben zu dürfen. Seine Menschlichkeit zu bewahren.
Teilweise hat das etwas von einer hypothetischen Versuchsanordnung, umso mehr, da jeglicher Kontext fehlt. Über die Figuren erfahren wir relativ wenig. Wir wissen nicht einmal, in welcher Stadt wir uns befinden. Und doch hat der belgische Regisseur und Drehbuchautor Philippe Van Leeuw eine fast schon erschreckend intensive Filmerfahrung geschaffen. Indem er uns ständig daran erinnert, dass da draußen der Krieg lauert – durch Explosionen oder Meldungen –, nimmt er einem jegliches Sicherheitsgefühl. Wenn sie friedlich zusammensitzen, beim Essen zum Beispiel, dann ist das eine bloße Illusion. Das wissen wir als Zuschauer. Das wissen aber auch die Figuren.
Menschlich nahe Darsteller
Großartig ist vor allem Hiam Abbass (À mon âge je me cache encore pour fumer) als Familienoberhaupt, das verzweifelt versucht, inmitten des tödlichen Chaos die Kontrolle zu behalten. Aber auch die anderen Darsteller meistern ihre Aufgaben bravourös, die angespannte Zerrissenheit der Situation zum Ausdruck zu bringen. Sollen wir alles hinter uns lassen, unsere Vergangenheit und unseren Besitz, um woanders ein neues Leben zu beginnen? Im Ausland gar? Wenn Innen Leben eines gelingt, dann ist es ohne jeglichen erhobenen Zeigefinger zu verdeutlichen, was hinter den Flüchtlingen liegt, die da auf einmal in unserem Land auftauchen.
Aber selbst wer nicht darüber nachdenken mag, wer Filme einfach nur der Zerstreuung wegen schaut, bekommt hier eine ganze Menge geboten. Gerade auch weil hier eine ganz normale Familie mit dem Tod konfrontiert ist, dringt die Spannungskurve in schön unangenehme Bereiche vor. Anders als in vielen Kriegsstreifen ist der Ausgang von Innen Leben tatsächlich ungewiss. Die Bedrohung ist ständig da, ist in jeder Szene zu spüren. Ein beklemmender Home-Invasion-Thriller mit einem ungewohnten Szenario und einer eher diffusen Gefahr, die aber in den „richtigen“ Momenten sehr viel realer und konkreter wird, als einem lieb sein kann.
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