„A Ciambra“, Italien/USA/Frankreich/Deutschland, 2017
Regie: Jonas Carpignano; Drehbuch: Jonas Carpignano; Musik: Dan Romer
Darsteller: Pio Amato, Koudous Seihon
Gesetze? Nein, die mögen für andere gelten, bei Pio (Pio Amato) und seiner Familie hält man nicht viel davon. Und auch Regeln sind bei ihnen so eine Sache. Während der Zusammenhalt zwischen den Mitgliedern der Roma-Gemeinschaft eine große Bedeutung spielt, kümmert sie der Rest nicht unbedingt – weshalb sie auch ständig in Konflikt mit anderen gerät. Vor allem in Konflikt mit der Polizei. Als sein Vater und sein älterer Bruder im Knast landen, kommt nun auf einmal dem 14-Jährigen die Aufgabe zu, sich um die Belange der Familie zu kümmern. Doch das ist alles andere als einfach, vor allem als er gezwungen wird, eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen …
Die schönsten Geschichten schreibt doch das Leben, so heißt es. Manchmal gilt das auch für die weniger schönen Geschichten. Die ausgesprochen hässlichen sogar. Der italo-amerikanische Regisseur und Drehbuchautor Jonas Carpignano erzählt eben eine solche, wenn er in seinem zweiten Langfilm den Bewohnern einer italienischen Küstenstadt einen Besuch abstattet. Ein Ort, in dem Kriminalität allgegenwärtig ist, schon in frühesten Jahren getrunken und geraucht wird, jegliche Form von Perspektive fehlt und Zusammenhalt grundsätzlich nur auf Kosten anderer entsteht.
Gute (?) alte Bekannte
Schon einmal hat Carpignano hier vorbeigeschaut. 2015 war das, in seinem Spielfilmdebüt Mediterranea, in dem er das Schicksal von Flüchtlingen in Süditalien verarbeitete. Das Drama hat aber ebenfalls in den früheren Kurzfilmen des Filmemachers seine Wurzeln, in A Ciambra und A Chjàna, in denen auch schon Pio Amato und/oder Koudous Seihon mitgespielt haben – teils in denselben Rollen wie hier. Pio, das im Original gleichermaßen A Ciambra heißt, ist aber keine Fortsetzung im eigentlichen Sinn. Die Geschichte ist neu, zumindest eine Variation der früheren Themen, Vorkenntnisse braucht es keine.
Der Effekt ist sogar größer, wenn es die erste Begegnung mit der ärmlichen Bevölkerung ist, die ständig auf der Suche nach einem besseren Leben ist, aber keine Möglichkeit hat, dieses Ziel zu erreichen. Man muss diese nicht unbedingt mögen. Es fällt sogar ausgesprochen schwer, sie zu mögen, wie sie kontinuierlich andere Leute ausraubt, hintergeht oder kräftig beschimpft. Wie sie sich als Opfer von Polizeigewalt sieht, nachdem sie gerade mal wieder Strom abgeklemmt und Autos gestohlen hat.
Von Verlierern und fehlenden Sympathieträgern
Das ist gerade für einen Coming-of-Age-Film – und ein solcher ist Pio ja – ziemlich ungewöhnlich. Meistens handeln diese schließlich von liebenswürdigen Jugendlichen und Kindern, denen man aus reiner Sympathie schon wünschen würde, endlich ihren Weg zu finden. Pio, der kein Verständnis und kein Interesse für die Folgen seiner Taten hat, bringt man hingegen maximal Mitleid entgegen. Aufgewachsen in einer Gesellschaft, in der jeder für sich kämpft, das Gesetz des Stärkeren zählt, am Ende irgendwie aber nie jemand zu gewinnen scheint. Von der Mafia vielleicht einmal abgesehen. Weil es hier noch nicht einmal das Fundament gibt, auf dem man gewinnen könnte. Es bleibt nur, innerhalb der verschiedenen Verlierergruppen das meiste für sich und seine Familie herauszuholen. Gruppen wie die Roma oder die afrikanischen Flüchtlinge, mit denen niemand zu tun haben will. Nicht einmal sie selbst.
Das Drama, welches 2017 in Cannes seine Weltpremiere hatte und anschließend auf diversen anderen Filmfestivals lief (unter anderem München und Zürich), bringt uns eine Welt der Vergessenen und Ausgestoßenen näher. Besonders bedrückend dabei ist, wie wenig Aufhebens Carpignano darum macht. Er sucht keine großen Momente, verzichtet auf pseudoexistenzielle Dialoge. Er folgt einfach den Menschen, begleitet sie in einem Alltag, bei dem man gar nicht sagen kann, ob er einem Drehbuch oder den Erfahrungen entsprungen ist. Dass der so dokumentarisch anmutende Spielfilm keine eindeutige Richtung verfolgt oder mit viel Handlung glänzt, ist deshalb kein Nachteil. Er verstärkt vielmehr den Eindruck in einem Mikrokosmos gelandet zu sein, in dem es keinen Trost gibt, keine Hoffnung, kein Entkommen. Schön ist das nicht, nicht im eigentlichen Sinn. Nichts, um Menschen in Scharen in die Kinos zu locken. Doch wen es dennoch dorthin verschlagen hat, wird den Lichtsaal als ein anderer wieder verlassen – gebrochen, entmutigt, niedergeschlagen.
Regisseur Jonas Carpignano ist für seinen zweiten Spielfilm Pio erneut an jenen Ort in Kalabrien zurückgekehrt, an dem er schon sein 2015 erschienenes Flüchtlingsdrama Mediterranea gedreht hatte. Bei den damaligen Filmarbeiten war sein Auto samt Equipment gestohlen worden, durch einen Tipp kam er in Kontakt mit der Familie Amato und erhielt nach Verhandlungen schließlich sein Auto zurück. Pio, den er damals kennenlernte, bekam schon in Mediterranea eine kleine Rolle. In Carpiganos neuestem Werk steht der Junge im Zentrum, seine Welt fängt der Regisseur quasidokumentarisch aus beeindruckender Nähe ein.
Koudous Seidon, der in Mediterranea die Hauptrolle hatte, spielt hier Ayiva, dessen Figur Pio mit viel Wärme und Fürsorge begegnet. Er führt den Jungen nebenbei in eine andere Außenseitergruppe neben jener der Roma-Community ein – die der afrikanischen Flüchtlinge. Vor einem frühzeitigen Abrutschen in die Kriminalität aber kann Ayiva den Jungen nicht bewahren.
Charismatische Laiendarsteller und lebendige Kamera
Auch Pios Mutter (Iolanda Amato) wird zwar wütend, als sie von den Gaunereien des jungen Sohnes erfährt. Doch die Not ist groß, und so nimmt sie das Geld von Pios Raubzügen schließlich widerwillig entgegen. Pio wollte versorgen, und es gelingt ihm – die kriminelle Laufbahn nimmt ihren Anfang. „Ich bin ein Mann“: Mit diesem Satz versucht der Junge sich schon früher im Film Respekt zu verschaffen. Am Ende ist Pio tatsächlich ein Mann geworden. Doch der Preis, den er dafür bezahlen muss, ist hoch. Das ist auch für den Zuschauer schmerzhaft spürbar. Obwohl allesamt Laiendarsteller, fesseln Pio und seine Verwandten durch ihre offene, charismatische und authentische Art. Die lebendige und filmische Kamera trägt ihr übriges zu diesem berührenden Werk in der Tradition des italienischen Neorealismus bei.
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