„Over The Limit“, Polen/Finnland/Deutschland, 2017
Regie: Marta Prus
Over The Limit zeichnet das intime Porträt einer der herausragendsten rhythmischen Sportgymnastinnen der Welt: Margarita Mamun. Der Dokumentarfilm begleitet die 20-jährige Rita, Mitglied des russischen Nationalteams, über ein entscheidendes Jahr ihres Lebens, von den Weltmeisterschaften 2015 bis hin zu den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro. Die Chance, ein olympischer Superstar zu werden und gemeinsam mit ihrer besten Freundin Yana Kudryavtseva im Wettkampf anzutreten, scheint für die Gymnastin zum Greifen nah. Auf dem Weg dorthin klopfen sie ihre beiden Trainerinnen Irina Viner und Amina Zaripova mit einem unerschöpflichen Repertoire an Beleidigungen zurecht.
Schockierende Realität
Regisseurin Marta Prus, die einst selbst als Leistungssportlerin trainierte, hält den Leidensweg der jungen Rita in diesem brillanten wie gnadenlosen Dokumentarfilm so lebhaft fest, dass man trotz des detailliert dargestellten verbalen wie physischen Missbrauchs der beiden Trainerinnen kaum wegsehen kann. „You’re not a human being, you’re an athlete“, hört man eine der beiden Trainerinnen keifen, während die ausgelaugte und emotional überwältigte Rita mit den Tränen kämpft. Diese eine Zeile ist so entsetzlich, dass man kaum glauben kann, dass sie nicht einem Drehbuch entsprungen ist. In bekannten Sportler-Dramen, wie Black Swan oder I, Tonya, mag es eine ganze Reihe in ihrer Gnadenlosigkeit unvergesslicher Trainer geben, aber den beiden rabiat boshaften Frauen, die Rita und ihre Teamkolleginnen mit kompromisslosem Perfektionismus und zerstörender Kritik terrorisieren, kann kaum jemand das Wasser reichen.
Tatsächlich stammt das vorher genannte Zitat aus dem Mund der umgänglicheren der beiden, Amina Zaripova, die Rita immer wieder ermutigt und zuweilen echte Zuneigung zeigt. Ihre weniger gutwillige Vorgesetzte Irina Viner, Leiterin des russischen Teams und Gattin des reichsten Manns des Landes, reagiert auf für den Zuschauer unsichtbare Fehler in Ritas Training mit einem endlosen Strom an wüsten Beschimpfungen, wie „Go fuck yourself with your shaking“ oder „What a stupid loser“, die selbst nach unzähligen Wiederholungen kaum an Härte oder Treffsicherheit verlieren. Es ist kein Geheimnis, dass die Welt der Leistungssportler ein knallhartes Pflaster ohne Erbarmen ist, dennoch ist es beinahe herzzerreißend, diese widerstandslose Tyrannei aus erster Hand zu beobachten.
Exzellente Machart
Dabei spielen bei dem Eröffnungsfilm des 33. DOK.fests München vor allem die Perspektive und Erzählweise eine entscheidende Rolle. Obwohl Prus mit Over The Limit in Struktur und Stil das Rad nicht neu erfindet, folgt sie einer beeindruckend präzisen Darstellung der „fly-on-the-wall“-Technik. Es gibt weder einen Erzähler aus dem Off, noch wird durch Interviews ein direkter Zugang zu Ritas emotionalem Innenleben hergestellt. Dennoch gelingt es der unzensierten Kamera, unter den Schichten an Make-up ihre Unsicherheit, ihre Erschöpfung und ihre Wut einzufangen und den Zuschauer spüren zu lassen. Dabei schmückt Prus nichts unnötig aus. Bei einer Spielzeit von spartanischen 73 Minuten verläuft die filmische Narration so präzise, wie eine von Ritas erstklassigen Choreographien.
Hassliebe
Als ehemalige rhythmische Gymnastin scheint Prus einerseits die exquisite, körperliche Natur dieser Disziplin zu bewundern und andererseits den psychologischen Druck zutiefst zu verabscheuen. So muss man sich als Zuschauer spätestens, wenn nach dem dramatischen Ende der Abspann läuft, über die Zwiespältigkeit des Films wundern. Over The Limit lebt vom ästhetischen Reiz der Turnerinnen, selbst wenn der immense Druck, der jeden Schritt, jeden Sprung, jede Drehung dirigiert, immens kritisiert wird. Wie sehr man die Schönheit der Leistung unter den gegeben Umständen bewundern kann, scheint sowohl für die Künstler, als auch die Filmemacher und den Zuschauer gleichermaßen ambivalent.
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